EuGH zur Sozialversicherungspflicht entsandter Arbeitnehmer: Kein flie­gender Wechsel im Schlachthof

Gastbeitrag von Dr. Michaela Felisiak, LL.M. (Bern)

06.09.2018

Der EuGH verschärft das Ablöseverbot: Wird ein entsandter Arbeitnehmer durch einen anderen entsandten Arbeitnehmer abgelöst, liegt keine Entsendung im Sinne des Unionsrechts vor. Michaela Felisiak zu den Konsequenzen für die EU-Arbeitswelt.

Ein entsandter Arbeitnehmer fällt, wenn er einen anderen entsandten Arbeitnehmer ablöst, unter das System der sozialen Sicherheit am Arbeitsort, auch wenn die beiden Arbeitnehmer nicht von demselben Arbeitgeber entsandt wurden. Das entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Donnerstag (Urt. v. 06.09.2018, Az. C-527/16, Alpenrind u. a.). Damit verschärfen die Luxemburger Richter das versicherungsrechtliche Ablöseverbot – mit weitreichenden Folgen für die europäische Arbeitswelt. Doch eins nach dem anderen.

Die Sache mit der Entsendung

Sozialversicherungsrechtlich stellt sich bei einem grenzüberschreitenden Einsatz von Arbeitnehmern die Frage, welches Rechtssystem zur Anwendung kommt. Innerhalb der Europäischen Union (EU) gilt der Grundsatz, dass Arbeitnehmer nur den Regelungen eines Mitgliedstaates unterliegen. Grundsätzlich sind das die Regelungen des Landes, in dem die Beschäftigung ausgeübt wird. Hierdurch soll die Gleichbehandlung aller im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats erwerbstätigen Personen gewährleistet werden.

Bei Auslandseinsätzen führt dieser Grundsatz zu einem Wechsel zwischen den jeweiligen Sozialversicherungssystemen. Das aber widerspräche dem europäischen Gedanken der Dienstleistungsfreiheit und Freizügigkeit. Entsprechend gibt es unterschiedliche Ausnahmen von diesem Grundsatz.

Die wichtigste Ausnahme, die gleichzeitig für den am Donnerstag entschiedenen Fall relevant wird, ist die Entsendung gemäß Art. 12 der Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Verordnung (EG) 883/04). Liegt eine solche vor, ändert sich trotz der Auslandstätigkeit der gewöhnliche Tätigkeitsort nicht und die entsandten Arbeitnehmer unterliegen weiterhin der heimischen Sozialversicherungspflicht.

Wesentliche Voraussetzungen sind hierfür insbesondere, dass Arbeitnehmer für einen von Anfang an begrenzten Zeitraum (höchstens 24 Monate) von einem Arbeitgeber ins Ausland geschickt werden und durch die Entsendung keine Ablösung eines anderen Entsandten bezweckt wird – man spricht vom sogenannten Ablöseverbot.

Das Ablöseverbot: Anknüpfung künftig nur am Arbeitsplatz

Bislang wurde das Ablöseverbot dahingehend verstanden, dass ein Unternehmen nicht nacheinander unterschiedliche Arbeitnehmer im Ausland für die Erledigung der gleichen Tätigkeiten – also am gleichen Arbeitsplatz – einsetzen darf.

Die Luxemburger Richter stellen mit ihrer Entscheidung vom Donnerstag aber klar, dass es für die Frage des Ablöseverbots nicht darauf ankommt, ob die betroffenen Arbeitnehmer für den gleichen Arbeitgeber tätig sind. Nach dem aktuellen Urteil kommt es auch nicht darauf an, ob die jeweiligen Arbeitgeber ihren Sitz in demselben Mitgliedsstaat haben oder ob es zwischen ihnen eine personelle oder organisatorische Verflechtung gibt.

Maßgeblich ist ab jetzt ganz allein, ob der entsandte Arbeitnehmer einen anderen entsandten Arbeitnehmer ablöst oder nicht - ganz egal, für wen er arbeitet. Liegt eine solche Konstellation vor, können die inländischen Regelungen des Arbeitgebers für den ablösenden Arbeitnehmer nicht fortgelten; er unterliegt damit den Vorschriften des Sozialsystems am Tätigkeitsort.

Der Fall Alpenrind: Ungarn in Österreich

In dem entschiedenen Fall beauftragte ein österreichischer Schlachthof eine ungarische Gesellschaft mit Subunternehmertätigkeiten (Zerlegung und Verpackung von Fleisch). Vor und nach diesem Zeitraum wurden die Arbeiten von Arbeitnehmern eines anderen ungarischen Unternehmens ausgeführt.

Die ungarische Sozialversicherung stellte für die etwa 250 nach Österreich entsandten Arbeitnehmer die notwendigen A1-Bescheinigungen aus – teilweise rückwirkend und teilweise in Fällen, in denen der österreichische Sozialversicherungsträger bereits festgestellt hatte, dass die betreffenden Arbeitnehmer in Österreich pflichtversichert sind. So kam es zum Streit darüber, wo die ungarischen Arbeitnehmer der Sozialversicherungspflicht unterliegen und ob die A1-Bescheinigungen aus ihrem Heimatland bindend sind.

Der österreichische Sozialversicherungsträger berief sich darauf, dass die Bindungswirkung der A1-Bescheinigungen nicht absolut sei und die Papiere wegen Verstoßes gegen das Ablöseverbot nicht hätten ausgestellt werden dürfen. Der ungarische Sozialversicherungsträger blieb bei seiner Auffassung, dass die von ihm ausgestellten A1-Bescheinigungen bindend sind.

EuGH: Recht und Unrecht zugleich

Die Luxemburger Richter gaben beiden Parteien ein Stück weit Recht. So stellten sie klar, dass die Bindungswirkung einer A1-Bescheinigung nach wie vor bis zum Zeitpunkt des Widerrufs beziehungsweise der Ungültigkeitserklärung durch den ausstellenden Sozialversicherungsträger gegenüber jedermann besteht. Das heißt für den Fall Alpenrind, dass die einmal im Raum stehenden ungarischen A1-Bescheinigungen auch gegenüber den österrei-chischen Sozialversicherungsträgern gelten.

Anknüpfend an die bisherige Rechtsprechung bestätigte der EuGH weiter, dass A1-Bescheinigungen – ebenfalls wie bisher – rückwirkend ausgestellt werden können. Und zwar selbst für den Fall, dass zum Zeitpunkt ihrer Ausstellung bereits ein anderer Sozialversicherungsträger – wie hier die österreichische Gebietskrankenkasse – darüber entschieden hat.

Allerdings weiteten die Richter das Ablöseverbot dahingehend aus, dass es gerade nicht darauf ankommt, ob der ablösende Arbeitnehmer bei dem gleichen Arbeitgeber beschäftigt ist oder nicht. Selbst die Fragen, ob die aufeinander folgenden Arbeitgeber in dem gleichen Mitgliedstaat sitzen oder irgendeine Verflechtung miteinander haben, spielen keine Rolle: Maßgebend sei allein, dass die ungarischen Arbeitnehmer andere entsandte Arbeitnehmer ablösen und dabei die gleichen Tätigkeiten (Zerlegung und Verpackung von Fleisch) ausüben sollen.

EU-Arbeitswelt wird bürokratischer – und risikoreicher

Das Ablöseverbot – eine bislang in der Praxis häufig vernachlässigte Schranke für die Frage, ob eine Entsendung im Sinne der europäischen Vorschriften vorliegt – gewinnt mit dem EuGH-Urteil erheblich an Bedeutung.

Gleichzeitig wird hierdurch ein nicht zu unterschätzendes Risiko für Arbeitgeber geschaffen, die sich auf eine einmal erteilte A1-Bescheinigung verlassen: Sollte diese irgendwann widerrufen oder für ungültig erklärt werden, müssen Arbeitgeber die Sozialversicherungsbeiträge der entsandten Arbeitnehmer ab diesem Zeitpunkt an die ausländischen Kassen des jeweiligen Beschäftigungsstaats entrichten, was zu einem enormen bürokratischen Aufwand führen wird und weder im Interesse der Arbeitnehmer noch der Arbeitgeber sein dürfte.

Hierdurch wird der grenzüberschreitende Mitarbeitereinsatz innerhalb Europas für Arbeitgeber – neben den ohnehin zu beachtenden Formalitäten – zunehmend unattraktiv. Inwieweit man in einer solchen Ablösekonstellation die Beantragung einer Ausnahmevereinbarung erwägen kann, wird sich erst in der Praxis zeigen. Unabhängig davon stellt die Verschärfung des Ablöseverbots weitere Hürden für den grenzüberschreitenden Mitarbeitereinsatz dar.

Die Autorin Dr. Michaela Felisiak, LL.M. (Bern) ist Rechtsanwältin im Münchener Büro von Beiten Burk-hardt und berät sowohl nationale als auch internationale Unternehmen zu allen Fragen des deutschen und europäischen Arbeitsrechts- und Sozialversicherungsrechts. Ein Schwer-punkt ihrer Tätigkeit liegt auf der Beratung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten und den damit zusammenhängenden Rechtsfragen.

Zitiervorschlag

EuGH zur Sozialversicherungspflicht entsandter Arbeitnehmer: . In: Legal Tribune Online, 06.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30793 (abgerufen am: 06.11.2024 )

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