Justizbehörden müssen in einem zweistufigen Verfahren sorgfältig prüfen, ob ein in Polen veranlasster europäischer Haftbefehl vollstreckt werden darf. Eine konkret-individuell drohende Rechtsverletzung müsse sicher sein, entschied der EuGH.
Justizbehörden, die auf Veranlassung Polens einen europäischen Haftbefehls vollstrecken sollen, müssen sorgfältig prüfen, ob den Betroffenen in Polen ein faires Verfahren erwartet. Um dies festzustellen, müsse zunächst abstrakt-generell geklärt werden, ob in Polen etwa aufgrund mangelnder Unabhängigkeit der Gerichte eine "echte Gefahr" bestehe, dass mit einer Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren gerechnet werden müsse. Das entschied der Europäischen Gerichtshof (EuGH) am Mittwoch (Urt. v. 25.07.2018, Az. C-216/18 PPU ).
In einem zweiten Schritt ist nach Auffassung des EuGH weiter zu prüfen, "ob es unter den gegebenen Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person nach ihrer Übergabe einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird".
Im konkreten Fall hatte sich ein polnischer Staatsbürger, dem illegaler Drogenhandel vorgeworfen wird, in Irland gegen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gewehrt. Der Mann widersprach seiner Übergabe an die polnischen Behörden, weil wegen der Reformen des polnischen Justizsystems die Gefahr bestehe, dass er in Polen kein faires Verfahren erhalte. Der High Court in Irland wandte sich daraufhin an den EuGH.
Die Luxemburger Richter folgten nunmehr mit ihrer Entscheidung im Wesentlichen dem Schlussantrag des Generalanwalts vom Juni. Wie schon dieser auch stellte der EuGH klar, dass das irische Gericht bei der Prüfung der Frage, ob in Polen objektiv mit Verletzungen des fairen Verfahrens zu rechnen sei, auch ein Vorschlag der EU-Kommission vom Dezember 2017 berücksichtigt werden könne. Diese hatte den Rat der Europäischen Union aufgefordert, die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch Polen festzustellen.
Konkret-individuelle Grundrechtsverletzung muss drohen
Mit dieser abstrakt-generellen Prüfung, so der EuGH, sei es allerdings nicht getan: Das irische Gericht müsse darüber hinaus auch feststellen - und hierzu die nötigen Informationen einholen -, ob sich die systemischen Mängel im polnischen Justizsystems auch konkret-individuell zum Nachteil des Betroffenen auswirkten und dieser eine Verletzung seines Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht erleide und damit der Wesensgehalt seines Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet werde. Sei dies der Fall, müsse der irische High Court davon absehen, dem Europäischen Haftbefehl gegen diese Person Folge zu leisten.
Mit dieser Forderung nach einem subjektiven Bezug knüpfte der EuGH an bereits zwei frühere Urteile des vorlegenden Gerichts an. Dabei hatte der EuGH in Bezug auf Rumänien und Ungarn entschieden, dass die allgemeinen Haftbedingungen in einem Land allein noch kein Grund seien, die Vollstreckung von dort stammender europäischer Haftbefehle abzulehnen.
Klar stellte der EuGH allerdings am Mittwoch auch, dass die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls eine Ausnahme von dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der dem Mechanismus des Europäischen Haftbefehls zugrunde liegt, darstelle - und als eben solche eng auszulegen sei.
In der Fachwelt stieß das EuGH–Urteil überwiegend auf positive Resonanz: Auch wenn eine offene Verurteilung Polens ausgeblieben sei, bedeute die Entscheidung "nicht nur ein klares Warnsignal an die polnische Regierung", sagte der Bielefelder Europa- und Völkerrechtler, Prof. Dr. Franz Mayer, zu LTO. Der EuGH habe zudem nachdrücklich "die überragende Bedeutung der gemeinsamen Werte und des gegenseitigen Vertrauens in der europäischen Rechtsgemeinschaft" betont, für die die Unabhängigkeit der Gerichte eine fundamentale Vorbedingung sei, so Mayer.
"Wegweisendes Urteil mit großen Folgewirkungen"
Kritisch äußerte sich Mayer allerdings zum Umstand, dass der EuGH an einem Zwei-Stufen-Test festhalte, wonach systemische Mängel in der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat für sich allein nicht ausreichten und die fehlende Unabhängigkeit sich auch konkret auswirken müssten. "Die konkreten Auswirkungen im Einzelfall bleiben leider als Hürde, wobei aber letztlich das Gericht des ersuchten Staates hierzu entscheidet, im Wege einer Grundrechtsgefährdungsprognose."
Prof. Mattias Wendel, der ebenfalls an der Universität Bielefeld u.a. Internationales Recht und Europarecht lehrt, bezeichnete das Urteil gegenüber LTO als "wegweisend und einen Schritt in die richtige Richtung". Allerdings bringe es nicht den von vielen erhofften Durchbruch zur umfassenden europarechtlichen Sanktionierung der polnischen Rechtsstaatlichkeitskrise.
Laut Wendel enthalte sich der EuGH - anders als von manchen Beobachtern erwartet - einer eigenen europarechtlichen Bewertung des polnischen Justizsystems. Vielmehr überlasse er die Prüfung den nationalen Gerichten im Einzelfall. Europarechtlich gehe das Urteil den Rückbau des polnischen Rechtsstaates und die damit einhergehende Unterminierung der Grundwerte der EU gerade nicht in seiner Gesamtdimension an.
Weiter verwies Wendel darauf, dass das Urteil auch "große Folgewirkungen für andere Rechtsgebiete, namentlich das Asylrecht", haben werde. So könnten aus dem Urteil Überstellungsverbote abgeleitet werden, die nicht mehr allein aus einem echten Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigen Behandlung (Art. 4 EU-Grundrechtecharta), sondern einer etwaigen Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren (Art. 47 II EU-Grundrechtecharta) folgen. Was die konkreten Voraussetzungen eines solchen Überstellungsverbotes betreffe, werfe das Urteil dem Hochschullehrer zufolge allerdings "mehr Fragen auf als es beantwortet".
Europäischer Haftbefehl aus Polen: . In: Legal Tribune Online, 25.07.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29961 (abgerufen am: 11.10.2024 )
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