Eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige muss nicht zwangsläufig zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen, zumindest das hat der EuGH geklärt – doch viele Fragen zu zwei BAG-Vorlageverfahren bleiben offen.
Mit zwei Urteilen hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zentrale Fragen zur Auslegung der Massenentlassungsrichtlinie (98/59/EG; "MERL") entschieden (Urt. v. 30.10.2025, Tomann C-134/24 und Sewel C-402/24). Beide Verfahren entstanden auf Vorabentscheidungsersuchen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) und führen zu einer dogmatischen Neujustierung der unionsrechtskonformen Behandlung fehlerhafter oder unterbliebener Massenentlassungsanzeigen. Zu den Sanktionsfolgen bleiben jedoch Fragen offen.
Art. 3 der MERL regelt die Anforderungen an die Massenentlassungsanzeige, insbesondere die Pflicht zur Information der zuständigen Behörde über die geplanten Entlassungen und die Konsultationen mit den Arbeitnehmervertretern. Art. 4 MERL enthält eine Sperrfrist von 30 Tagen ab Eingang der Anzeige, innerhalb der die Behörde Lösungen zur Vermeidung oder Milderung der Entlassungen suchen soll und binnen derer eine Kündigung nicht wirksam wird. Diese Verfahrenspflichten sind unionsrechtlich zwingend, wobei Art. 6 den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegt, für die effektive Durchsetzung dieser Pflichten Sorge zu tragen.
Zwei Vorlagen von zwei Senate des BAG
Der 2. Senat des BAG geht im Hinblick auf das Anzeigeverfahren bislang davon aus, dass eine Kündigung ohne vorherige Massenentlassungsanzeige i.S.d. § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) unwirksam ist.
Hingegen äußerte der 6. Senat zuletzt in diesem Punkt Zweifel. Er möchte die Verletzung der Anzeigepflicht generell nicht mehr als Unwirksamkeitsgrund i.S.d. § 134 BGB anerkennen. Da dies jedoch zu einer Abkehr von der Rechtsprechung des 2. Senats führen würde, fragte er beim 2. Senat nach § 45 Abs. 3 ArbGG an, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsauffassung festhält (Beschl. v. 14.12.2023). In der Folge setzte der 2. Senat das Anfrageverfahren aus und legte dem EuGH Fragen zu den rechtlichen Konsequenzen von Fehlern im Massenentlassungsverfahren zur Vorabentscheidung in der Rechtssache Tomann vor (Beschl. v. 01.02.2024, Az. 2 AS 22/23 (A)). Nur drei Monate später reichte der 6. Senat inhaltlich nahezu identische Fragen beim EuGH in der Rechtssache Sewel ein (Beschl. v. 23.05.2024, Az. 6 AZR 152/22 (A)).
Während es in der Rechtssache Tomann im Kern der Vorlagefragen an den EuGH um die Sanktionsfolge einer gänzlich unterbliebenen Massenentlassungsanzeige und die Frage einer etwaigen Heilung ging, befassten sich die Fragen in der Rechtssache Sewel mit den Rechtswirkungen fehlerhafter oder unvollständiger Massenentlassungsanzeigen – insbesondere mit der Frage, wann der Zweck der Massenentlassungsanzeige als erfüllt gelten kann und welche Folgen sich aus einer behördlichen Nichtbeanstandung ergeben.
Kernaussagen der beiden EuGH-Urteile
Die Kernaussagen des EuGH aus den beiden Urteilen lassen sich wie folgt auf den Punkt bringen:
Rechtssache Tomann:
Die Kündigung eines Arbeitsvertrags im Rahmen einer Massenentlassung kann erst nach Ablauf der in Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie vorgesehenen Frist von 30 Tagen wirksam werden und setzt mithin zwingend – zum Ingangsetzen dieser Frist – eine Massenentlassungsanzeige voraus.
Allerdings kann ein Arbeitgeber die fehlende Massenentlassungsanzeige nicht in der Weise nachholen, dass damit die Kündigung 30 Tage nach der Nachholung wirksam würde. Eine nachträgliche Heilung sei ausgeschlossen.
Die Richtlinie schreibe Arbeitgebern die Erfüllung zweier Verfahrenspflichten vor: die Konsultationspflicht mit Arbeitnehmervertretern und die Anzeigepflicht gegenüber der Behörde. Der Unionsgesetzgeber habe diese Verfahrenspflichten vorgesehen, um den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen zu verstärken und für sie die Rechtssicherheit aufrechtzuerhalten. Die unionsrechtliche Abfolge – Konsultation, Anzeige, Kündigung – ist somit strikt einzuhalten und eine vorübergehende Aussetzung würde das Ziel der Richtlinie beeinträchtigen.
Der EuGH überlässt es dem nationalen Recht, welche Sanktionen im Einzelnen bei Fehlen einer Anzeige vorgesehen werden, verlangt jedoch, dass der unionsrechtliche Schutzzweck – die Wahrung der 30-Tage-Frist – effektiv umgesetzt wird.
Rechtssache Sewel:
Das Hauptziel der Richtlinie ist es, der zuständigen Behörde zu ermöglichen, nach Lösungen für die durch die Massenentlassung aufgeworfenen Probleme zu suchen. Dieses Ziel kann nicht erreicht werden, selbst wenn die Behörde eine fehlerhafte oder unvollständige Anzeige nicht beanstandet und sich somit als ausreichend informiert betrachtet.
Ein Arbeitgeber kann von den zwei wesentlichen Verfahrensvorschriften der Richtlinie (Konsultationspflicht und Anzeigenpflicht gegenüber der Behörde) nicht dadurch befreit werden, dass bei einer ursprünglich fehlerhaften oder unvollständigen Anzeige die Behörde ggf. durch Amtsermittlung oder ein kooperatives Verfahren zu einer Mangelbehebung tatsächlich beiträgt.
Offen bleibt die Frage der Sanktion. Denn die bloße Hemmung der 30-Tage-Frist dient laut EuGH nicht dazu, die Anzeigepflicht wirksam durchzusetzen. Die Mitgliedstaaten müssen vielmehr eigene Rechtsfolgen vorsehen. Die müssen geeignet sein, die Zwecke der Richtlinie effektiv sicherzustellen und Arbeitgeber anzuhalten, die Verfahrenspflichten einzuhalten, damit – so der EuGH - die praktische Wirksamkeit der Bestimmungen der Richtlinie, wie insbesondere die Entschädigung der betroffenen Arbeitnehmer, gewährleistet ist.
Fehlerhafte, unbeanstandete Anzeige erfüllt nicht den Schutzzweck, aber Nichtigkeitsfolge nicht zwingend
Für die deutsche Arbeitsrechtpraxis ergibt sich daraus eine zweifache Konsequenz und zugleich eine Fragestellung:
Zum einen ist nunmehr klar, dass eine nicht ordnungsgemäße, aber von der zuständigen Agentur für Arbeit unbeanstandet gebliebene Massenentlassungsanzeige die unionsrechtliche Schutzfunktion nicht wahrt. Zum anderen lässt sich festhalten, dass als Sanktionsfolge einer in Gänze unterbliebenen Massenentlassungsanzeige kein unionsrechtlicher Zwang zur Nichtigkeit der Kündigung besteht.
Wie aber in besagten Fällen die Sanktion konkret aussehen kann, wenn man unterhalb der Schwelle der Nichtigkeit bleiben möchte, um eine komplette Wiederholung des gesamten Verfahrens und Neuausspruch von Kündigungen zu vermeiden, bleibt unklar.
Einerseits ist eine nachträgliche Heilung einer vollständig unterbliebenen Anzeige laut EuGH ausgeschlossen. Daher scheidet eine schwebende Unwirksamkeit mit ex tunc Wirkung aus. Denkbar wäre die Kündigung als schwebend unwirksam bis zur ordnungsgemäßen Erfüllung der beiden zwingenden Verfahrenspflichten der Richtlinie – Konsultation und Anzeige – zu behandeln und zugleich die Rechtswirksamkeit mit ex nunc Wirkung anzuordnen. Auf diese Weise könnte bei unterbliebener Anzeige eine Wahrung der 30-Tage-Frist und somit Zweckerreichung von Art. 4 MERL nach wie vor erreicht werden.
Diese Schlussfolgerung kollidiert aber zugleich mit der Urteilsbegründung des EuGH in der Sache Sewel. Dort führt der EuGH in Bezug auf eine fehlerhafte oder unvollständige Anzeige aus, dass die Aussetzung der Kündigungsfrist für einen an die 30 Tage-Frist angepassten Zeitraum bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Anzeige ordnungsgemäß erfolgt, weder den Zweck des Art. 4 MERL ersetzen noch den des Art. 6 MERL erfüllen kann.
Wenn dies für eine zwar erfolgte, aber nicht ordnungsgemäße Anzeige gilt, kann nichts anderes für den Fall einer vollständig unterbliebenen Anzeige gelten. Damit scheidet auch eine schwebende Unwirksamkeit der Kündigung mit ex nunc Wirkung aus.
Weicht die Doktrin "Nichtigkeit ex tunc"?
Allerdings deutet der EuGH an, dass die Sanktionsmaßnahmen geeignet sein müssen, den Arbeitgeber zu seiner Anzeigepflicht anzuhalten, "damit die praktische Wirksamkeit der Bestimmungen dieser Richtlinie, wie insbesondere die Entschädigung der betroffenen Arbeitnehmer, gewährleistet ist". Daher könnte womöglich eine Kombination aus schwebender Unwirksamkeit der Kündigung mit ex nunc Wirkung samt Entschädigung eine denkbare Sanktionsfolge sein.
Das BAG wird nun prüfen müssen, ob die bisherige Doktrin der „Nichtigkeit ex tunc“ einer unionsrechtskonformen Auslegung weichen soll und ob eine Abschwächung zur schwebenden Unwirksamkeit überhaupt geeignet sein kann, die unionsrechtlichen Vorgaben zu erfüllen. Zudem müssten sich der 2. Senat und der 6. Senat über die mögliche Sanktion noch einig werden.
Für Arbeitgeber und Insolvenzverwalter bedeutet dies aber in jedem Fall eine erhebliche Compliance-Pflicht: Bis zur abschließenden Klärung muss die Massenentlassungsanzeige vollständig, richtig und rechtzeitig erfolgen. Zudem muss die unionsrechtliche Abfolge Konsultation-Anzeige-Kündigung in jedem Fall gewahrt werden.

Die Autorin Isabel Hexel ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht. Sie ist Partnerin bei der Kanzlei Oppenhoff & Partner in Köln.
EuGH zu Anforderungen an Massenentlassungsanzeigen: . In: Legal Tribune Online, 30.10.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/58507 (abgerufen am: 11.11.2025 )
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