Der BayVGH darf keine Zwangshaft gegen Söder & Co. verhängen, auch wenn der Freistaat zahlreiche EU-Grundwerte verletzt. Es fehle an einer eindeutigen Rechtsgrundlage, so der Generalanwalt am EuGH.
Gegen deutsche Amtsträger, die rechtskräftige Urteile nicht befolgen, kann in Deutschland keine Zwangshaft verhängt werden. So sieht es jedenfalls der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof (EuGH) Henrik Saugmandsgaard Øe (Schlussantr. v. 14.11.2019, Az. C-752/18). Es fehle an einer eindeutigen gesetzlichen Grundlage für eine derartige Haft. Dieser bedürfe es aber, um das Grundrecht auf Freiheit einschränken zu können.
Hintergrund des Verfahrens ist eine rechtskräftige Entscheidung, die die Deutsche Umwelthilfe (DUH) gegen den Freistaat Bayern erstritten hat, weil dieser sich weigert, einen Luftreinhalteplan aufzustellen. Auch nach dem Urteil bewegte sich die Landesregierung nicht, sodass die DUH mehrfach Zwangsgeld beantragte, das auch gezahlt wurde .
Nur ist das Zwangsgeld in diesem Fall kein wirksames Mittel, da das Geld lediglich von einer Staatskasse in die andere wandert. Schließlich beantragte die DUH, vertreten durch den Berliner Anwalt Remo Klinger, die Anordnung von Zwangshaft. Die Frage, ob die verhängt werden kann, legte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) dem EuGH vor.
Bayern verletzt EU-Grundwerte
Laut Generalanwalt könnte die Weigerung des Freistaates, das Urteil zu befolgen, gravierende Folgen haben – sowohl für die Gesundheit und das Leben der Menschen als auch für die Rechtsstaatlichkeit in Deutschland. Denn unter anderem auf diesen Werten fuße die Europäische Union (EU), betont der Generalanwalt. Außerdem beeinträchtige ein solches Verhalten das durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierte Grundrecht des Bürgers auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf.
Nur: Das alles ändere nichts daran, dass es im deutschen Recht derzeit an einer eindeutigen Rechtsgrundlage fehle, die klar besagt, welche Personen überhaupt von Zwangshaft betroffen sein könnten. Es gebe nämlich, so der Generalanwalt, nach Angaben des BayVGH mehrere Personen, die für eine Inhaftierung in Betracht kämen; neben dem Ministerpräsidenten auch der Umweltminister, der Regierungspräsident - genau wie Personen in leitenden Positionen. Denn die eigentlich verantwortlichen im Freistaat besäßen parlamentarische Immunität und könnten sich der Verantwortung ohnehin entziehen.
Ein weiteres Problem, das die Schlussanträge aufwerfen: Wären dann leitende Beamten einer Behörde in der Pflicht, eine Entscheidung entgegen der Vorgabe ihres Vorgesetzten umsetzen?
Trotz staatlichen Fehlverhaltens: Grundrecht auf Freiheit zu beachten
Unabhängig davon, wie schwerwiegend der Freistaat gegen Recht und Rechtsstaatlichkeit verstößt, dürften die nationalen Gerichte die grundlegenden Erfordernisse des Grundrechts auf Freiheit nicht außer Acht lassen, so der Generalanwalt weiter.
Deutlich betont Saugmandsgaard Øe, dass der zum Luftreinhalteplan aufgestellte Grundsatz, die Gerichte müssten "gegen die Behörde jede erforderliche Maßnahme erlassen" (Urt. v. 26.06.2019, Rechtssache C-723/17) nicht so weit gehe, dass von einem Recht oder gar einer Pflicht ausgegangen werden könnte, Zwangshaft zu verhängen – zumindest wenn diese, wie eben in Deutschland, gesetzlich nicht vorgesehen ist.
Das könnte der nationale Gesetzgeber aber durchaus ändern: Es sei Sache des jeweiligen Gesetzgebers, darüber zu befinden, ob er es für wünschenswert halte, eine solche gesetzliche Regelung zu treffen, heißt es in den Schlussanträgen.
Unabhängig davon stünden der EU-Kommission im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahren zusätzliche Zwangsmittel gegen die Mitgliedstaaten zur Verfügung, auch wenn es sich dabei nur um weitere finanzielle Sanktionen handele. Von dieser Möglichkeit hat die Kommission auch bereits Gebrauch gemacht: Sie hat vor dem EuGH ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen der Luftverschmutzung angestrengt, u. a. in der Stadt München, (Az. C-635/18).
Ältere deutsche Rechtsprechung hilft nicht weiter
Noch in der mündlichen Verhandlung vor dem EuGH hatte der Richter frühere Urteile in Deutschland erwähnt, in denen Zwangshaft gegen Amtsträger thematisiert worden sei. Erwähnt wurden seinerzeit etwa Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Rheinland-Pfalz und des OVG Berlin.
Allerdings hatte das OVG Rheinland-Pfalz lediglichentschieden, wie die Verpflichtung der öffentlichen Hand zur Einsichtgewährung in bestimmte Unterlagen (Personalakten eines Beamten) zu vollstrecken sei (Beschl. v. 04.07.1986, Az.: 1 E 11/86). Der Leitsatz bezog sich nur darauf, dass sich die Zwangsvollstreckung nach den Regeln über Zwangsgeld und Zwangshaft gem. § 888 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) richtet. Ob tatsächlich auch Zwangshaft gegenüber der öffentlichen Hand angeordnet werden könnte, damit hatte sich das OVG nicht weiter befasst.
Auch in der zweiten vom EuGH-Richter benannten Entscheidung ist die Frage der Zwangshaft gegen die öffentliche Hand nicht gelöst. Das OVG Berlin hatte damals entschieden, dass sich die Vollstreckung eines schlicht-hoheitlichen Unterlassungsgebots gegen eine Behörde nach § 890 ZPO und nicht nach § 172 VwGO richtet (OVG Berlin, Beschl. v. 29.8.2000, Az. OVG 8 L 25.99). Auch hier ging es um die Festsetzung eines Zwangsgeldes; die Frage, ob (Ersatz-)Zwangshaft verhängt werden kann, beantwortete das Gericht nicht.
Tanja Podolski, Schlussanträge des EuGH-Generalanwalts: . In: Legal Tribune Online, 14.11.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38709 (abgerufen am: 05.10.2024 )
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