2/2: Kritik für diesen "verbraucherunfreundlichen Akt"
Diese Rechtsprechung hat § 476 BGB eines Großteils seines Anwendungsbereichs beraubt. Der zuständige VIII. Senat ist für diesen "verbraucherunfreundlichen Akt" in der Literatur von Anfang an zu Recht heftig kritisiert worden.
Die Kritiker verweisen insbesondere auf den Wortlaut des § 476 BGB. Aus ihm ergibt sich entgegen dem BGH nicht nur die Vermutung, dass gerade der aufgetretene Sachmangel bereits bei Gefahrübergang vorlag. Vielmehr folgt daraus, dass ein Sachmangels innerhalb von sechs Monaten nach Gefahrübergang aufgetreten ist, dass die Mangelhaftigkeit der Sache vermutet wird.
Diese gegenständlich weitere Vermutung lässt sich richtigerweise aber nur widerlegen, wenn der Verkäufer darlegt und gegebenenfalls beweist, dass auch kein "latenter" Mangel zur Funktionsunfähigkeit der Sache geführt hat.
Der Gesetzgeber hat die Regelung des § 476 BGB mit den „schlechteren Beweismöglichkeiten des Verbrauchers und den – jedenfalls in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Übergabe – ungleich besseren Erkenntnismöglichkeiten des Unternehmers” gerechtfertigt. Diese Erwägungen greifen aber nicht nur, wenn ein vom Verbraucher nachgewiesener Mangel vorliegt, sondern gelten erst recht für die Frage, ob der erst nach Gefahrübergang aufgetretene Sachmangel auf einen bereits bei Gefahrübergang vorliegenden „Grundmangel” zurückzuführen ist.
Der BGH hat sich indes von dieser Kritik nicht beeindrucken lassen, sondern die von ihm vorgenommene Auslegung des § 476 BGB wiederholt bestätigt und präzisiert (vgl. Urt. v. 14.9.2005, Az. VIII ZR 363/04; Urt. v. 23.11.2005, Az. VIII ZR 43/05; Urt. v. 15.1.2014, Az. VIII ZR 70/13).
Warum hat der BGH den EuGH nicht bereits früher gefragt?
Der VIII. Senat ist allerdings nicht nur für seine Auslegung des § 476 BGB, sondern auch dafür heftig gescholten worden, dass er die hiermit zusammenhängenden Rechtsfragen nicht dem EuGH vorgelegt hat.
In der Tat ist es erstaunlich, dass die Richter eine solche Vorlage nicht einmal in Erwägung gezogen zu haben scheinen und sich in allen Entscheidungen allenfalls am Rande mit der § 476 BGB zugrunde liegenden Verbrauchsgüterkaufrichtlinie beschäftigt haben. Vor dem Hintergrund des mit der Richtlinie bezweckten hohen Verbraucherschutzstandards und der aus anderen Fällen bekannten verbraucherfreundlichen Rechtsprechung des EuGH kam die Nichtvorlage dem Entzug des gesetzlichen Richters gleich.
Auch wenn der EuGH sein Auslegungsergebnis – wie so oft – dogmatisch nicht sonderlich begründet, werden die deutschen Gerichte künftig an dieser Entscheidung nicht vorbeigehen können. Sie sind, selbst wenn sie das Ergebnis nicht teilen, gezwungen, die Reichweite der Vermutung im Wege richtlinienkonformer Auslegung an die Vorgaben des EuGH anzupassen.
De-Facto-Haltbarkeitsgarantie für Verbraucher
Wenngleich die Vermutung widerlegbar bleibt, könnten Verbraucher damit künftig über § 476 BGB innerhalb der ersten sechs Monate nach Gefahrübergang de facto eine Haltbarkeitsgarantie (vgl. § 443 Abs. 2 BGB) vom Verkäufer erhalten.
Etwas anderes gilt allerdings nach Gesetz und Richtlinie, wenn die Vermutung mit der Art der Sache oder des Mangels unvereinbar ist. Insoweit hat der BGH jedoch schon bislang einen verbraucherfreundlicheren Weg eingeschlagen.
Die Vermutung, dass ein Sachmangel bereits bei Gefahrübergang vorgelegen hat, ist nach der Rechtsprechung des VIII. Senats nicht schon dann mit der Art des Mangels unvereinbar, wenn der Mangel typischerweise jederzeit auftreten kann und deshalb keinen hinreichend sicheren Rückschluss darauf zulässt, dass er schon bei Gefahrübergang vorhanden war. Sie kann danach sogar für äußere Beschädigungen der Kaufsache, wie etwa einen Karosserieschaden eines verkauften Kraftfahrzeugs, eingreifen. Sie ist lediglich dann mit der Art des Mangels nicht in Einklang zu bringen, wenn es sich um äußerliche Beschädigungen handelt, die auch dem fachlich nicht versierten Käufer hätten auffallen müssen (Urt. v. 14.9.2005, Az. VIII ZR 363/04).
Der Autor Dr. Christian Deckenbrock ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht der Universität zu Köln. Einer seiner Lehr- und Forschungsschwerpunkte ist das Kaufrecht.
Christian Deckenbrock, EuGH zur Beweislastumkehr im Verbrauchsgüterkauf: . In: Legal Tribune Online, 05.06.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15766 (abgerufen am: 13.10.2024 )
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