Italien durfte nicht im Alleingang den genetisch veränderten Mais MON-810 verbieten. Diese Entscheidung des EuGH sollte eigentlich selbstverständlich sein, kommentiert Carsten Bittner. Nicht nur aus dogmatischen Gründen.
Italien durfte nicht im Alleingang den genetisch veränderten Mais MON-810 verbieten. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Mittwoch entschieden. Die Mitgliedstaaten dürfen keine Sofortmaßnahmen in Bezug auf genetisch veränderte Lebens- oder Futtermittel treffen, wenn nicht ein ernstes Risiko für die Gesundheit oder die Umwelt besteht (Urt. v. 13. 09.2017, Az. RS. C-111/16 Fidenato u.a.).
Der EuGH hat mit diesem Urteil über das grundsätzliche Verhältnis zwischen dem allgemeinen lebensmittelrechtlichen Vorsorgeprinzip und den speziellen Eingriffsvoraussetzungen der Verordnung (EG) 1829/2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel entschieden. Wenig überraschend gehen die speziellen Regelungen dem allgemeinen Prinzip vor.
Es ist eine Entscheidung, die eigentlich in doppelter Hinsicht selbstverständlich sein sollte. Die eine Rechtsfrage betrifft, die zwischenzeitlich anderweitig gesetzlich geregelt wurde. Und die doch von großer Bedeutung ist, nicht nur rechtssystematisch gesehen.
Kommission sah keinen Grund, aber Italien verbot den Anbau
Das Vorlageverfahren aus Italien betrifft die Frage, unter welchen Voraussetzungen Mitgliedstaaten den Anbau zugelassener genetisch veränderter Lebensmittel und Futtermittel verbieten dürfen. Es geht um die genetisch veränderte Maissorte MON-810, die die europäische Kommission bereits 1998 zugelassen hatte.
Grundlage der Zulassung war die Feststellung des Wissenschaftlichen Ausschusses "Pflanzen", dass es keinen Grund zu der Annahme gebe, dass das Inverkehrbringen dieser Maissorte eine Gefahr für Mensch oder Umwelt darstelle.
Im April 2013 bat die italienische Regierung die Kommission, Sofortmaßnahmen nach der Verordnung 178/2002 zu erlassen, um den Anbau der Maissorte MON-810 zu verbieten. Das Ersuchen stützte Rom auf Studien italienischer Institute über vermeintliche Risiken der Maissorte. Die Kommission antwortete der italienischen Regierung im Mai 2013, ihre Vorprüfung habe keine dringende Notwendigkeit für den Erlass von Sofortmaßnahmen ergeben, sie werde die von Italien vorgelegten wissenschaftlichen Studien aber durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) prüfen lassen.
Auch diese stellte im September desselben Jahres fest, dass die von Italien vorgelegten Studien keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse enthielten. Es bestehe kein Grund, Sofortmaßnahmen zu erlassen oder die Zulassung von MON-810 in Frage zu stellen. Die italienische Regierung hatte indes bereits im Juli 2013 per Dekret den Anbau von MON-810 verboten und hielt an diesem Verbot ungeachtet der Stellungnahme der EFSA fest.
Unter Verstoß gegen dieses Dekret bauten die Antragsteller des Ausgangsverfahrens, Giorgio Fidenato und andere, die Maissorte auch im Jahr 2014 weiterhin an; gegen die ihnen zugestellten Strafbefehle legten sie Einspruch ein. Das italienische Gericht legte die Sache dem EuGH vor und fragte hierbei insbesondere nach dem Verhältnis zwischen dem in der Verordnung 178/2002 verankerten Vorsorgeprinzip und den strengeren Voraussetzungen für den Erlass von Sofortmaßnahmen nach Art. 34 der Verordnung 1829/2003.
Vorsorgeprinzip vs. spezielle Eingriffe gegen genetisch veränderte Lebensmittel
Nach dem in der Lebensmittel-Basis-Verordnung (EG 178/2002) verankerten Vorsorgeprinzip kann die Kommission vorläufige Risikomanagementmaßnahmen treffen, um ein hohes Gesundheitsschutzniveau sicherzustellen. Und zwar schon dann, wenn wissenschaftlich noch Unsicherheit besteht, ob von den Lebens- oder Futtermitteln ein Risiko ausgeht. Die Mitgliedstaaten dürfen vorläufige Schutzmaßnahmenergreifen, solange die Kommission nicht handelt.
Demgegenüber gestattet Art. 34 der Verordnung 1829/2003 Sofortmaßnahmen gegen zugelassene genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel nur dann, wenn davon auszugehen ist, dass ein Erzeugnis wahrscheinlich ein ernstes Risiko für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt darstellt.
Der EuGH hatte bereits am 8. September 2011 in seiner Monsanto-Entscheidung (Az. C-58/10 bis C-68/10) festgestellt, dass Sofortmaßnahmen gegen genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel nach Art. 34 der Verordnung 1829/2003 nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen getroffen werden dürfen. Auf der Grundlage neuer Anhaltspunkte nämlich, die auf zuverlässigen wissenschaftlichen Daten beruhen, muss festgestellt werden, dass ein erhebliches Risiko besteht, das offensichtlich die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt gefährdet.
2/2: EuGH: Einmal erteilte Zulassung nur unter strengen Voraussetzungen angreifbar
Hierauf verweist der Gerichtshof in seiner jetzt ergangenen Entscheidung in Sachen "Fidenato u.a.". Und stellt klar, dass diese strengen Anforderungen dem allgemeinen Vorsorgeprinzip aus der Verordnung 178/2002 vorgehen.
Der EuGH begründet das nicht nur mit dem formellen Argument, dass es sich bei der Verordnung 1829/2003 um die speziellere Norm handelt. In der Sache weist der Gerichtshof – dem Generalanwalt folgend – darauf hin, dass sich das Vorsorgeprinzip aus der Verordnung 178/2002 auf Lebensmittel und Futtermittel im Allgemeinen bezieht. Diese durchlaufen vor ihrem Inverkehrbringen ganz überwiegend kein wissenschaftliches Zulassungsverfahren. Bei solchen Lebensmitteln und Futtermitteln müssten daher Sofortmaßnahmen schon dann ergriffen werden, wenn auch nur eine Unsicherheit über ein mögliches Risiko für die Gesundheit bestehe.
Genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel würden demgegenüber vor ihrer Zulassung umfassend wissenschaftlich untersucht. Das allgemeine Vorsorgeprinzip finde bereits im Rahmen dieser Untersuchung Anwendung, denn der Antragsteller müsse die Sicherheit der Erzeugnisse nachweisen. Dementsprechend könne die einmal erteilte Zulassung nur in Frage gestellt werden, wenn ein höheren Anforderungen genügender Nachweis dafür erbracht werde, dass entgegen den vorherigen wissenschaftlichen Feststellungen ein ernstes Risiko besteht.
Sollte eigentlich selbstverständlich sein
Die Entscheidung des EuGH sollte in doppelter Hinsicht eine Selbstverständlichkeit sein. Rechtssystematisch ist es selbstverständlich, dass eine spezielle Rechtsnorm Vorrang vor allgemeinen Rechtsprinzipien genießt.
In der Sache aber sollte es selbstverständlich sein, dass die Ergebnisse wissenschaftlicher Zulassungsverfahren, deren Durchführung für die Antragsteller mit erheblichen Investitionen verbunden ist, nicht ohne wissenschaftliche Grundlage wieder in Zweifel gezogen werden können. An dieser Stelle könnte man, als weiteres Rechtsprinzip, auch auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes verweisen.
Seit 2015 kommt es für einzelstaatliche Verbote des Anbaus genetisch veränderter Lebensmittel und Futtermittel nicht mehr auf die Abwägung zwischen dem Vorsorgeprinzip und der Verordnung 1829/2003 an. Aufgrund des wachsenden Widerstandes vieler Mitgliedstaaten gegen die Zulassung genetisch veränderter Lebensmittel und Futtermittel haben Parlament und Rat die Richtlinie (EU) 2015/412 erlassen. Danach können Mitgliedstaaten bereits im Zulassungsverfahren verlangen, dass ein genetisch verändertes Lebensmittel auf ihrem Hoheitsgebiet nicht angebaut wird.
Darüber hinaus können die Mitgliedstaaten den Anbau auch nachträglich aus recht weit gefassten Gründen beschränken oder untersagen. Der Anbau der Maissorte Mohn-810 ist von der Kommission im Jahr 2016 in den Hoheitsgebieten von 19 Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland und Italien, untersagt worden. Dessen ungeachtet behält die Entscheidung des EuGH ihre Bedeutung. Für Maßnahmen, die sich gegen das Inverkehrbringen oder die sonstige Verwendung genetisch veränderter Lebensmittel und Futtermittel richten. Und darüber hinaus selbstverständlich als höchstrichterliche Bekräftigung des alten Grundsatzes "lex specialis …".
Der Autor Dr. Carsten Bittner ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner im Bereich Lebensmittel- und Kartellrecht bei Graf von Westphalen in Hamburg.
Dr. Carsten Bittner, EuGH zu Italiens Verbot von genetisch verändertem Mais: Sofortmaßnahmen nur bei ernstem Risiko für Gesundheit oder Umwelt . In: Legal Tribune Online, 13.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24511/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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