"Außergewöhnliche Umstände" lassen eine Ersatzpflicht der Airlines bei annullierten Flügen entfallen. Wirklich außergewöhnliche Umstände wären allerdings, wenn ein Gericht das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände annähme. Von Ernst Führich.
Die EU-Fluggastrechte-Verordnung (VO) Nr. 261/2004 bereitet den Luftfahrtunternehmen und ihren Fluggästen, aber auch den Gerichten erhebliche Probleme in der Rechtsanwendung. Die VO beschäftigt trotz der verhältnismäßig geringen Streitwerte nicht nur in erheblichem Umfang die Instanzgerichte, sondern mit ihren unbestimmten Rechtsbegriffen immer wieder auch den Bundesgerichtshof (BGH) und den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH).
Letzterer musste am Donnerstag erneut über eine Vorlage zur VO entscheiden (Urt. v. 17.09.2015, Az. C-257/14). Viel Neues birgt sein Urteil nicht: Schon nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH und BGH sind technische Probleme am Flugzeug, die trotz regelmäßiger Wartung entstehen, grundsätzlich keine "außergewöhnlichen Umstände", die bei einer Annullierung die Zahlungspflicht der Airline gegenüber den Passagieren (250 bis 600 Euro, je nach Distanz des ausgefallenen Fluges) entfallen ließen. Zahlungspflichtig sind alle Airlines, welche in der EU starten, und alle EU-Luftfahrtunternehmen bei Flügen aus Drittstaaten in die EU, weshalb auch der im Streitfall betroffene Flug der KLM aus Quito nach Amsterdam von der Fluggastrechte-VO erfasst wird.
EuGH legt seit Jahren verbraucherfreundlich aus
Bereits Ende 2008 (Urt. v. 22.12.2008, Az. C-549/07) hat der EuGH auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Handelsgerichts Wien entschieden, dass ein technisches Problem, das bei einem Flugzeug auftritt und zur Annullierung eines Fluges führt, grundsätzlich nicht unter den Begriff fällt, es sei denn, es ginge auf Vorkommnisse zurück, "die aufgrund ihrer Natur oder Ursache nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens sind und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen sind." Im Interesse des Verbraucherschutzes betont der EuGH, dass die Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 3 der Flugastrechte-VO eng auszulegen sei.
Demnach dürfen die entschuldigenden Vorkommnisse nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der betroffenen Fluggesellschaft und aufgrund ihrer Natur oder Ursache von dieser tatsächlich nicht beherrschbar sein. Das Auftauchen technischer Probleme außerhalb der Wartungsintervalle ist damit nicht außergewöhnlich. Mängel der sogenannten "Lufttüchtigkeit" wie Schäden an Reifen, Fahr- oder Triebwerk entlasten nicht. Solche Defekte haben meistens ihre Ursache in unzureichender Wartung oder Bedienungsfehlern der Piloten und sind nicht Folge von unvermeidbaren, nicht beherrschbaren Einflüssen von außen wie Hagel, Vogel- oder Blitzschlag.
Ausnahmen bei Sabotage, Terrorismus und versteckten Fabrikationsfehlern
Ausnahmsweise können aber auch technische Probleme zu den außergewöhnlichen Umständen zählen, nämlich dann, wenn sie auf Vorkommnisse zurückgehen, die nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen sind, wie beispielsweise bei Entdeckung versteckter Fabrikationsfehler oder Schäden durch Sabotage oder Terrorismus. Hierzu hat der EuGH schon bisher in seinen Urteilen betont, dass es nicht ausreicht, wenn das Luftfahrtunternehmen die gesetzlich vorgeschriebenen Mindesterfordernisse an Wartungsarbeiten an dem Flugzeug ausgeführt hat. Verlangt werden vielmehr alle Maßnahmen, die für das Luftfahrtunternehmen in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht tragbar waren – welche das im Einzelnen sind, entscheiden die nationalen Gerichte.
Diesen Grundsätzen des EuGH folgt der BGH seit 2009. So betont der BGH in seiner Entscheidung vom 21. August 2012 (Az. X ZR 138/11) zum Pilotenstreik als außergewöhnlichem Umstand, dass "technische Defekte, wie sie beim Betrieb eines Flugzeugs typischerweise auftreten, grundsätzlich keine außergewöhnlichen Umstände begründen, und zwar auch dann nicht, wenn das Luftverkehrsunternehmen alle vorgeschriebenen oder sonst bei Beachtung der erforderlichen Sorgfalt gebotenen Wartungsarbeiten frist- und ordnungsgemäß ausgeführt hat."
Dafür, dass ein außergewöhnlicher Umstand vorgelegen hat, ist die Airline beweispflichtig – ebenso dafür, dass sie alle ihr zumutbaren Maßnahmen getroffen hat, um die Annullierung zu vermeiden. In der Praxis ist der Vortrag zu diesen Punkten oftmals dünn und nicht ausreichend, um die hohen gerichtlichen Hürden zu nehmen. Allerdings besteht umgekehrt auch kein klarer Maßstab dafür, genau welche technischen und wirtschaftlichen Maßnahmen den Airlines noch zumutbar sind. Mitunter erstreiten diese somit auch günstige Präjudizien, namentlich etwa Entscheidungen des BGH und EuGH, wonach ohne konkreten Anlass kein Ersatzflugzeug in Reserve vorgehalten werden muss. Aufgrund der jeweils geringfügig anderen Umstände im Einzelfall wird trotz grundsätzlich klarer Gerichtslage also wohl noch mancher Fall nach der Fluggastrechte-VO den BGH oder EuGH beschäftigen.
Der Autor Prof. Dr. Ernst Führich beschäftigt sich seit über 25 Jahren im Schwerpunkt mit Reiserecht und ist Verfasser der Werke "Reiserecht", 7. Auflage 2015 sowie "Basiswissen Reiserecht", 3. Auflage 2015.
Klageflut im Fluggastrecht: . In: Legal Tribune Online, 18.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16927 (abgerufen am: 02.10.2024 )
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