Neue Sicherheitspläne der EU: Wie wollen wir uns ver­tei­digen?

von Stephan Koloßa

26.06.2017

2/2: Lose Zusammenarbeit und einfacherer Informationsaustausch

Im ersten Szenario würden die Mitgliedstaaten allein auf freiwilliger Basis zusammenarbeiten. Es gäbe keine unionsweiten, unmittelbaren Kompetenzen. Sollte sich eine Bedrohung konkret abzeichnen, könnten die Mitgliedsstaaten Ad-hoc-Beschlüsse fassen und so auf die jeweilige Situation reagieren. Die EU-Staaten wären maßgeblich an keine gemeinsame Marschrichtung gebunden, sondern könnten jeweils situativ und individuell entscheiden; sie behielten weitgehend ihre Kompetenzen.

Auf europäischer Ebene könnten jedoch speziell Informationen leichter ausgetauscht und koordiniert werden. Es würde auch ein europäischer Verteidigungsfonds zusammen mit einem Verteidigungsforschungsprogramm errichtet. Durch den Fonds sollen gezielt gemeinsame Kompetenzen und Technologien entwickelt werden, beispielsweise im Bereich von militärischen Drohnen oder einer europäischen Satellitenüberwachung.

Das zweite Szenario geht einen Schritt weiter und geht von einer geteilten Verantwortung aus. Die Europäische Union bekäme mehr Kapazitäten, um militärische Geschlossenheit und Stärke vermitteln zu können. Sie soll verstärkt mit der NATO kooperieren, aber auch eigenständig Krisenbewältigungs- sowie Kapazitätsaufbaumaßnahmen übernehmen können. Dies gälte besonders für die Bereiche der maritimen Sicherheit, des Terrorismus, der Cyberbedrohungen, des Grenzschutzes und der Energieversorgungssicherheit. Dopplungen von Abwehrmaßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten sollen so verhindert werden. Ebenfalls soll der bereits genannte Verteidigungsfonds entstehen.

Eine europäische Armee als Ziel

Schließlich nennt das Papier der Kommission als drittes Szenario eine gemeinsame Verteidigung und Sicherheit auf europäischer Ebene. Dieser Vorschlag ginge mit einer weitgehenden Kompetenzverlagerung auf die Europäische Union einher und es entstünde eine Sicherheits- und Verteidigungsunion. Militärisches Personal würde vorausstationiert und stünde permanent zur Verfügung der Europäischen Union.

Vor allem bei den zuletzt genannten Szenarien stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zur NATO. Nach den derzeit geltenden Regelungen des EU-Vertrags herrscht ein kooperatives Miteinander. Auch werden in den Abschlusskommuniqués des Nordatlantikrates in stetiger Regelmäßigkeit die gemeinsamen strategischen Interessen zwischen der NATO und der Europäischen Union herausgestellt. Dies verwundert auch nicht, herrscht doch weitgehend Personalunion in den entsprechenden Gremien. Auf der Grundlage, dass keine der beiden Organisationen über eine eigene Armee verfügt, wurde für die Verteilung der Kapazitäten im Wege der sogenannten Berlin-plus-Vereinbarungen eine einvernehmliche Kompromisslösung gefunden.

In der Theorie mag das funktionieren, doch die transatlantischen Beziehungen verlaufen in der Praxis nicht immer harmonisch. So herrschte bereits im Nachgang der NATO-Ratsbeschlüsse zu den Berlin-plus-Vereinbarungen Streit über die Reichweite der Regelungen und insbesondere über das Recht des ersten Zugriffs. Seit den Vereinbarungen von 2003 hat sich der Grundsatz durchgesetzt, dass das Erstzugriffsrecht bei der NATO liegt. Gleichwohl wurden die Vereinbarungen nicht durchweg beachtet, was sich beispielsweise bei den Einsätzen in Bosnien-Herzegowina in 2002 und den Einsätzen im Kongo in 2003 und 2006 zeigte. Die Errichtung einer Verteidigungsunion würde international daher sicher nicht ohne politische Gegenwehr bleiben.

Die EU hätte erstmal mit sich selbst zu kämpfen

Das Szenario einer europäischen Verteidigungsunion ist jedoch bereits auf europäischer Seite ein ausgesprochen ambitioniertes Unterfangen. Es stimmt, dass es eine wachsende Zahl an Bedrohungen für unsere Gesellschaft gibt. Globale und regionale Akteure rüsten auf, terroristische Anschläge sind an der Tagesordnung und die Zahl der Cyberangriffe steigt. Eine Bündelung von Wissen und Kompetenzen auf europäischer Ebene ermöglicht eine effektive und effiziente Verteidigung. Die Europäische Union würde über ein breites Spektrum an Handlungsmöglichkeiten verfügen mit jeweils großem Potential.

Tatsächlich würde eine gemeinsame Verteidigung gegenwärtig jedoch wohl an der nötigen Einstimmigkeit scheitern, da die Unentschlossenheit auf Seiten der Mitgliedstaaten recht groß ist. Der Bereich der GSVP steht weiterhin im entscheidenden Spannungsfeld zwischen Integration und Wahrung nationaler Souveränität.

Andererseits wird eine Notwendigkeit zur Eigenständigkeit Europas etwa im Hinblick auf die USA und die NATO nicht zuletzt von Bundeskanzlerin Merkel zunehmend deutlich artikuliert. Insoweit erinnert die Situation ein Stück weit an die Geschichte der WEU: Sich helfen? Ja. Sich binden? Eher nicht.

Der Autor Stephan Koloßa ist Wiss. Mit. am Institut für Friedenssicherungs- und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) der Ruhr-Universität Bochum sowie Mitglied des Fortschrittskollegs "SecHuman". Er beschäftigt sich vorwiegend mit dem Völker- und Europarecht. Seine Promotion verfasst er zum Recht auf Privatheit im digitalen Zeitalter.

Zitiervorschlag

Stephan Koloßa, Neue Sicherheitspläne der EU: Wie wollen wir uns verteidigen? . In: Legal Tribune Online, 26.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23279/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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