Bei Verstößen gegen EU-Grundfreiheiten kann die Kommission kurzerhand Sanktionsverfahren einleiten – bei der Demontage des polnischen Rechtsstaats ist das weit schwerer. Welche Möglichkeiten sie dennoch hat, erklärt Thomas Giegerich im Interview.
LTO: Herr Prof. Giegerich, am 13. Januar hat die Europäische Kommission den "Rechtsstaatsdialog" mit Polen eingeleitet, seit vergangenem Mittwoch befinden wir uns offiziell in dessen zweiter Phase. Was bedeutet das überhaupt?
Giegerich: Der Dialog besteht grob gesagt aus drei Phasen: In der ersten weist die Kommission den Mitgliedstaat darauf hin, dass sie die Wahrung der Gewährleistungen des Art. 2 EUV (Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte) anzweifelt – das ist im Januar geschehen. Über die nächsten Monate folgt dann ein Dialog zwischen Kommission und Mitgliedstaat, in dem die jeweiligen Positionen ausgetauscht und diskutiert werden. Auf Wunsch Polens wurde auch die sog. "Venedig-Kommission" angerufen, ein eigenes Gremium des Europarats, das die Mitgliedstaaten verfassungsrechtlich berät – dort hat man die Bedenken der EU-Kommission aber geteilt. Auf dieser Grundlage hat die Kommission am 1. Juni eine Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit in Polen abgegeben, in der sie eine "systemische Bedrohung" der Rechtsstaatlichkeit identifiziert.
Im Juli hat Polen die umstrittene Reform seines Verfassungsgerichts, die den Stein des Anstoßes bildet, zwar teilweise rückgängig gemacht, aber eben nicht in allen beanstandeten Punkten. Deshalb hat die Kommission nun Phase 2 des Verfahrens eingeleitet, der polnischen Regierung eine konkrete Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit gegeben und ihr eine Frist von drei Monaten gesetzt, um ihren Forderungen – u.a. nach Einsetzung der drei noch vom Vorgängerparlament gewählten Verfassungsrichter und Veröffentlichung auch nichtopportuner Entscheidungen des polnischen Verfassungsgerichts – nachzukommen.
"Der Artikel 7 ist keine nukleare Option"
LTO: Was berechtigt die Kommission dazu, dies zu fordern?
Giegerich: In der Konzeption der EU ist die Kommission die "Hüterin der Verträge". Sie wacht also über deren Einhaltung, auch die von Art. 2 EUV. Wann solche weit gefassten Begriffe wie "Demokratie" oder "Rechtsstaatlichkeit" im Einzelnen verletzt sind, ist natürlich Abwägungssache, aber im Fall Polens spricht schon viel dafür.
Der "Rechtsstaatsdialog" ist hingegen nirgendwo vertraglich geregelt; die Kommission hat dieses Verfahren 2014 einfach aus dem Nichts heraus geschaffen. Man wollte dort ein vorgeschaltetes, sanftes Druckmittel haben, um nicht gleich zum Art. 7 EUV greifen zu müssen, wenn ein Mitgliedstaat gegen Art. 2 EUV verstößt. Das Verfahren ist dialogisch ausgestaltet und dient der Kommission dazu, sich darüber klar zu werden, ob sie ihr Vorschlagsrecht nach Art. 7 Abs. 1 EUV ausübt.
LTO: Der "nuklearen Option", wie Ex-Kommissionspräsident Barroso den Artikel einmal genannt hat.
Giegerich: Dieses Label halte ich für übertrieben. Eine nukleare Option ist ja eine, die man keinesfalls gebrauchen wird, und mit der man nur drohen kann – wobei sich dann fragt, wie wirksam diese Drohung noch ist. Mit dem Artikel 7 wird zwar zu Recht zurückhaltend umgegangen, aber ich denke schon, dass die Kommission ihn anwenden wird, wenn Polen in den nächsten Monaten kein weiteres Entgegenkommen zeigt.
"Der Druck auf Polen ist auch ohne Sanktionen erheblich"
LTO: Wird das nicht am Widerstand einiger Mitgliedstaaten scheitern? Ungarn z.B. wird kaum einem Sanktionsverfahren zustimmen, das ihm auch selbst drohen könnte.
Giegerich: Einstimmigkeit ist sicher nicht leicht zu erzielen – sie wird aber auch nur von Art. 7 Abs. 2 und 3 EUV vorausgesetzt. Wenn sie vorliegt, können dem Staat, der gegen Art. 2 verstößt, nach Art. 354 AEUV potentiell bestimmte seiner Rechte als Mitglied der Union ausgesetzt werden, inklusive des Stimmrechts und ohne die Möglichkeit, diese Entscheidung durch den EuGH auf ihre materielle Richtigkeit prüfen zu lassen (Art. 269 AEUV). Das ist schon ein wirklich gravierender Eingriff, für den deshalb auch die hohe Hürde der Einstimmigkeit vorgesehen ist – wobei der Staat, um den es geht, selbst natürlich nicht mitstimmen darf.
Art. 7 Abs. 1 EUV setzt hingegen keine einstimmige Entscheidung voraus, sondern "nur" einen Beschluss durch vier Fünftel der Mitglieder des Rats und die Zustimmung des Europäischen Parlaments. Danach sind zwar keine Sanktionen möglich, wohl aber die Feststellung durch den Rat, "dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht."
LTO: Mit anderen Worten: Alles, was weh tut, kommt strukturell nicht zu Stande, und alles andere sind bloße Unmutsbekundungen durch die Kommission oder – bei Vier-Fünftel-Mehrheit – durch Kommission und Rat.
Giegerich: Ja und nein. Es stimmt zwar, dass vom Rechtsstaatsdialog und auch von einer möglichen Entscheidung nach Art. 7 Abs. 1 keine unmittelbare Sanktionswirkung ausgeht. Aber der politische Druck ist nicht zu unterschätzen. Die offene Aussprache durch höchste europäische Institutionen, dass etwas gründlich faul im Staate Polen ist, stärkt die dortige Opposition, setzt die Regierung unter Druck, und steigert auch die Bereitschaft anderer Nationen wie z.B. der USA, ihrerseits Entscheidungen zum Nachteil Polens zu treffen.
2/2: Warum profane Verstöße leichter sanktioniert werden können als gravierende
LTO: Wenn die Kommission sonst der Meinung ist, dass ein Mitgliedstaat gegen EU-Recht verstößt, kann sie nach Art. 258 AEUV ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, ohne, dass irgendeine Abstimmung nötig wäre. Das geschieht auch jährlich hundertfach; gegen Deutschland läuft z.B. gerade ein solches Verfahren wegen der LKW-Maut. Ist es nicht widersprüchlich, dass solche vergleichsweise profanen Verstöße ohne Weiteres angeklagt und – bei entsprechender Entscheidung des EuGH – mit Sanktionen belegt werden können, wohingegen Sanktionen bei viel gravierenderen Verstößen gegen das Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzip faktisch kaum möglich sind?
Giegerich: Das kann man so sehen. Aber das Argument funktioniert auch umgekehrt: Gerade weil der Art. 7 (vermeintliches) Fehlverhalten aus dem Kernbereich nationaler Selbstbestimmung sanktioniert, wollen sich die Mitgliedstaaten dort nur unter besonders hohen Hürden hineinreden lassen. Eine noch weitergehende Regelung als die jetzige wäre nicht konsensfähig gewesen. Ich glaube, sie wäre es auch nicht, wenn heute über eine Neufassung des Artikels 7 abgestimmt würde – neben Polen und Ungarn könnte ich mir z.B. denken, dass auch Frankreich am Einstimmigkeitserfordernis würde festhalten wollen. Auch dort sind in Folge des Notstands bekanntlich seit Monaten diverse rechtsstaatliche Gewährleistungen eingeschränkt.
LTO: Wäre es nicht auch möglich, gegen Polen ein ganz "normales" Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 zu führen? Dieser greift schließlich, wenn ein Mitgliedstaat "gegen seine Verpflichtungen aus den Verträgen verstoßen" hat – dazu zählen doch auch die Verpflichtungen aus Art. 2 EUV?
Giegerich: Das ist eine ganz nette Idee, die auch diskutiert wird. Das Gegenargument lautet, dass das Verfahren nach Art. 7 für Verstöße gegen Art. 2 die speziellere Norm darstellt und ein Vorgehen nach Art. 258 somit ausschließt. Andererseits kann man auch annehmen, dass Art. 7 den Art. 258 nur ergänzt und nicht ersetzt, soweit es um Verstöße gegen Art. 2 geht. Welcher Ansicht des EuGH folgen würde, müsste man einmal ausprobieren – es gibt dafür bislang keinen Präzedenzfall. Es bleibt abzuwarten, ob die Kommission versuchen wird, Art. 258 AEUV zur Durchsetzung des Art. 2 EUV zu operationalisieren.
Auch Ungarns Justizreform kam auf Umwegen vor die Gerichte
LTO: Gibt es von dieser Möglichkeit abgesehen noch weitere Maßnahmen, die die Kommission ergreifen kann?
Giegerich: Allenfalls punktuelle. Es kann natürlich sein, dass einzelne Maßnahmen der polnischen Regierung nicht nur das Rechtsstaatsgebot aus Art. 2 verletzen, sondern darüber hinaus auch noch konkrete europäische Grundfreiheiten. Dagegen lässt sich dann auf jeden Fall ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 führen. In Ungarn war das z.B. vor einigen Jahren der Fall: Orban hatte damals per Gesetz das Rentenalter für Richter von 70 auf 62 verringert und die freiwerdenden Stellen mit systemtreuen Kandidaten besetzt. Das war in der Sache natürlich ein rechtsstaatliches Problem, aber die Kommission hat ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Altersdiskriminierung eingeleitet und 2012 vom EuGH Recht bekommen. Das ist ein wenig so, wie wenn Sie Al Capone wegen Steuerhinterziehung drankriegen – aber immerhin: es hat funktioniert.
LTO: Könnte neben dem EuGH auch der EGMR tätig werden?
Giegerich: Auch das ist denkbar, und auch hier liefert Ungarn die Blaupause: Das Land ist 2014 vom EGMR verurteilt worden, weil es András Baka, den Präsidenten des obersten ungarischen Gerichtshofs, unter offenkundig fadenscheinigen Gründen entlassen hatte, nachdem dieser zuvor Kritik an der ungarischen Justizreform und insbesondere der Senkung des Renteneintrittsalters geäußert hatte. Die Große Kammer des EGMR hat diese Entlassung erst vergangenen Monat gerügt. Der EGMR sah in dem Vorgehen Ungarns u.a. eine Verletzung von Bakas Recht auf Meinungsfreiheit. Auch das trifft natürlich nicht den Kern des Problems.
Prof. Dr. Thomas Giegerich ist Inhaber des Lehrstuhls für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht und des Jean-Monne-Lehrstuhls für Europarecht und Europäische Integration an der Universität des Saarlandes. Einer seiner Forschungsschwerpunkte liegt im Verhältnis von nationalem und europäischem Verfassungsrecht.
Das Interview führte Constantin Baron van Lijnden.
Constantin Baron van Lijnden, Europarechtler zum Rechtsstaatsdialog mit Polen: Es geht zäh und auf Umwegen, aber es geht . In: Legal Tribune Online, 28.07.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20137/ (abgerufen am: 28.03.2024 )
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