Seit dem Jahr 2000 wird um eine Europäische Staatsanwaltschaft gerungen, die Straftaten gegen den EU-Haushalt besser bekämpfen soll. Nun haben sich 17 EU-Staaten verständigt. Aber Franz-Josef Schillo bezweifelt den Erfolg des Projekts.
Die Bekämpfung von Straftaten gegen die finanziellen Interessen der EU gestaltet sich seit jeher schwierig. Vor allem die mangelhafte Verfolgung grenzüberschreitender Vorgänge führt zu erheblichen Schäden. Nach Schätzungen der EU-Kommission verursachen allein die nicht aufgedeckten Steuerstraftaten bei der EU jährliche Ausfälle von 50 Milliarden Euro.
Grund ist zum einen die Unlust oder Unfähigkeit der Staaten, Straftaten zu Lasten der EU zu verfolgen. Zum anderen bestehen nur sehr eingeschränkte Eingriffs- oder Verfolgungsbefugnisse der EU-Behörden im Strafrechtsbereich. Diese sind vielmehr auf die Kooperation der Mitgliedstaaten angewiesen, welche oftmals ausbleibt. Ein trauriges Beispiel dafür ist OLAF (Office Européen de Lutte Anti-Fraude). Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung kann nur Verwaltungsuntersuchungen durchführen. Straf- oder Disziplinarverfahren sind ihm verschlossen, nach Abschluss der Ermittlungen muss OLAF den Vorgang an den betreffenden Mitgliedstaat abgeben. Dort erfolgt aber nur selten eine effektive Weiterverfolgung. Dementsprechend kam es in der Zeit von 2006 bis 2013 nur in 31 Prozent der vorgelegten Fälle zu Anklagen in den Mitgliedstaaten.
Die Europäische Kommission regte daher bereits 2000 auf der Regierungskonferenz in Nizza an, europäische Mechanismen zur effektiven Verfolgung von Straftaten zu Lasten des Haushalts der EU einzuführen. Im Dezember 2001 wurde hierzu die Einsetzung eines Europäischen Staatsanwaltes vorgeschlagen. Sämtliche Versuche einer derartigen Einrichtung scheiterten aber bislang.
Nun aber haben sich mehrere Länder auf eine vertiefte Zusammenarbeit geeinigt. Neben Belgien, Bulgarien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Kroatien, Lettland, Litauen, Österreich, Rumänien, Slowenien, Slowakei, Spanien und Tschechien steht die Zustimmung von Portugal und Zypern noch aus, auch Italien soll zu einer Zusammenarbeit bewegt werden. Aber kann diese vertiefte Zusammenarbeit das Problem wirklich lösen?
2013: Der erste Versuch, und gleich zusammen mit dem Strafprozessrecht
Einen ersten Entwurf zur Schaffung einer europäischen Staatsanwaltschaft legte die Kommission am 17. Juli 2013 vor. Ziel war dabei die Errichtung einer zentralen Behörde, welche in allen Mitgliedsstaaten selbständig ermitteln und anklagen sollte. Dies sollte auch für nicht grenzüberschreitende, sondern rein nationale Vorgänge gelten.
Die Europäische Staatsanwaltschaft sollte dabei mit massiven Befugnissen ausgestattet werden, die Kritiker als rechtsstaatlich bedenklich ansahen. Beispielsweise sollte die Europäische Staatsanwaltschaft einen Gerichtsstand unter mehreren in Betracht kommenden Gerichtsständen (auch in unterschiedlichen Mitgliedsländern) relativ frei wählen können. Dies hätte dazu geführt, dass Vorgänge, die sich in einem Land ereignen, in einem anderen Land angeklagt werden können. Eine wirksame Verteidigung wäre dementsprechend durch die Sprachbarriere sowie die Anwendung materiell und formell ausländischen Strafrechts vor einem ausländischen Gericht massiv erschwert worden.
Massive Kritik wurde auch an der vorgesehenen Rechenschaftspflicht der Europäischen Staatsanwaltschaft und der Möglichkeit einer fiskalischen Verständigung geübt. Insoweit wurde befürchtet, dass die Staatsanwaltschaft sowohl Verfolgungen als auch Einstellungen aus rein finanziellen Motiven vornimmt.
Parallel gab es Bestrebungen, das Strafprozessrecht innerhalb der EU umfassend zu harmonisieren. Unterschiedliche Vorschläge der Europäischen Kommission, zum Beispiel zum Schutz von Minderjährigen in Strafverfahren sowie für angemessene Prozesskostenhilfe für Verdächtigte und beschuldigte Personen wurden in der Folgezeit bis zu Beginn dieses Jahres auch umgesetzt.
2/2: Trotz aller Vorschläge keine Einigung auf einen Europäischen Staatsanwalt
Der Vorschlag der Europäischen Kommission zur Europäischen Staatsanwaltschaft hingegen stieß, anders als diese Maßnahmen zur Erweiterung des Rechtsschutzes Betroffener und der Prozesskostenhilfe, auf massive Kritik in den Mitgliedstaaten. Diese sahen vor allem ihre nationale Souveränität beeinträchtigt. Ihrer Ansicht nach verstießen die geplanten Befugnisse und die Unabhängigkeit der beabsichtigten Europäischen Staatsanwaltschaft gegen den Grundsatz der Subsidiarität.
So widersetzen sich v. a. Schweden, Polen, Ungarn, Malta und die Niederlande, die den Vorrang der nationalen Strafverfolgung betonten. Ihrer Ansicht nach sollte eine Europäische Staatsanwaltschaft, wenn überhaupt, nur ergänzend tätig werden. Seit dem Brexit haben sich diese Vorbehalte sogar noch verschärft. Nur Italien wollte eine wesentlich stärkere und effizientere Staatsanwaltschaft.
Als Reaktion auf diese Kritik versuchte man, insbesondere im Rat für Justiz und Inneres, einen relativierenden Kompromiss zu finden. Vorgeschlagen wurden eine Schwächung und Umstrukturierung der bis dahin vorgesehenen zentralen Leitung der Behörde, die Organisation der Europäischen Staatsanwaltschaft sollte betont dezentral aufgestellt werden.
Geplant war in der zuletzt vorgesehenen konsolidierten Fassung des Rats vom 2. Dezember 2016 ein mehrstufiger Aufbau mit einer dezentralen Arbeitsebene delegierter Europäischer Staatsanwälte aus den jeweiligen Mitgliedstaaten und zwei Aufsichtsebenen für Ermittlungsverfahren des Europäischen Staatsanwalts und der ständigen Kammer sowie weiteren Ebenen des Kollegiums und eines Europäischen Generalstaatsanwalts. Der Deutsche Richterbund bezeichnete die außerordentlich komplexen Strukturen zu Recht als aufgebläht, unübersichtlich und kaum durchschaubar, eine effizient funktionierende Strafverfolgung hätte so sicherlich nicht aufgebaut werden können.
Zu einer Verständigung kam es trotz dieses Entgegenkommens gegenüber den kritisierenden Ländern nicht, die Mitgliedstaaten konnten sich nicht auf einen für die gesamte EU zuständigen Europäischen Staatsanwalt einigen. Anfang März 2017 scheiterte die Bildung einer Europäischen Staatsanwaltschaft durch eine entsprechende Verordnung für die Europäische Union endgültig.
Das Europa mehrerer Geschwindigkeiten – und jetzt?
Dessen ungeachtet einigten sich Anfang März die eingangs genannten Staaten auf die Gründung einer entsprechenden europäischen Staatsanwaltschaft mit Wirkung für ihre Länder im Wege der sog. verstärkten bzw. vertieften Zusammenarbeit. Dabei kann eine Gruppe von Mitgliedstaaten gemeinsame Regelungen einführen, ohne dass sich die anderen Staaten daran beteiligen müssen.
Die nun getroffene Einigung zwischen der Mehrzahl der Mitgliedstaaten setzt damit den kürzlich von Jean-Claude Juncker vorgeschlagenen Dritten Weg um. Der Kommissionspräsident hatte Anfang Januar in einem Weißbuch fünf Szenarien der weiteren Zukunft Europas vorgeschlagen. Dritter Vorschlag war dabei die Verstärkung der Kooperation einzelner EU-Staaten unter dem Dach der EU („Wer mehr tun will, tut mehr“).
Nach derzeitigem Stand soll der Sitz der Europäischen Staatsanwaltschaft in Luxemburg angesiedelt werden, ihre Arbeit soll sie im Jahr 2019 aufnehmen. Der Text über die Verständigung soll noch angepasst und bis Ende des Jahres finalisiert werden. Wie konkret dann die Struktur und Befugnisse der Europäischen Staatsanwaltschaft für diese Mitgliedstaaten, die mitmachen, aussehen sollen, ist derzeit noch unklar. Nach momentanem Sachstand soll der oben angesprochene Verständigungsvorschlag mit einer dezentralen Organisation grundsätzlich übernommen und bis Ende dieses Jahres ausverhandelt werden.
Da Italien noch zur Mitarbeit gewonnen werden soll, ist eine eventuell doch noch herbeizuführende Zentralisierung und Effektivierung – wie von Italien vorgeschlagen – zwar noch möglich. Das bisherige Verhalten der anderen Mitgliedstaaten lässt allerdings vermuten, dass es im Wesentlichen bei der derzeit vom Rat vorgeschlagenen dezentralen Struktur der Europäischen Staatsanwaltschaft bleiben wird – mit allen Zweifeln an deren Effizienz und Funktionsfähigkeit. Ob dies dann wirklich eine Verbesserung gegenüber den bisherigen europäischen Verfolgungsmaßnahmen wird, ist höchst fraglich.
Der Autor Rechtsanwalt Franz-Josef Schillo ist bundesweit tätiger Strafverteidiger mit Sitz in Dresden. Er ist Vizepräsident der Rechtsanwaltskammer Sachsen (eine der Schwerpunktkammern für Strafrecht) und wirkt an deren Stellungnahmen zur Ausgestaltung des Europäischen Strafrechts mit.
Franz-Josef Schillo, Europäische Staatsanwaltschaft?: Der Berg kreißt weiter . In: Legal Tribune Online, 23.03.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22451/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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