Interview mit dem Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates: "Die Bür­ger­geld-Reform ist in weiten Teilen Sym­bol­po­litik"

Interview von Hasso Suliak

26.10.2025

Strafrechtler und Ethikrat-Vorsitzender Helmut Frister spricht über das rechtliche Risiko einer Abtreibungsreform, die Widerspruchslösung bei der Organspende und warum er nicht an die vom BMJV angestrebte effizientere StPO glaubt.

LTO: Herr Professor Frister, eine Reihe aktueller politischer Vorhaben berühren tiefgreifende ethische Fragestellungen: die Reform des Bürgergelds, eine Wiederauflage der Wehrpflicht für junge Menschen, das Thema Organspende, um nur einige zu nennen. Warum hört man dazu so wenig vom Ethikrat?

Prof. Dr. Helmut Frister: Der Ethikrat mischt sich nicht in die aktuelle Tagespolitik ein. Wir erarbeiten Stellungnahmen, die umfassend sind und bis zu ihrer Fertigstellung einige Zeit in Anspruch nehmen, manchmal bis zu zwei Jahre. In diesem Jahr stehen bei uns die Themen Neurotechnologie und Langzeitpflege auf der Agenda. 2024 haben wir uns zur Klimagerechtigkeit zu Wort gemeldet und Empfehlungen abgegeben, die sich auch an die politischen Entscheidungsträger richten.

Eine Empfehlung lautete, dass die notwendigen Schritte zur Eindämmung des Klimawandels und zur Anpassung an seine Folgen so schnell wie möglich ergriffen werden müssten. Angesichts der schwerwiegenden Auswirkungen auf die Lebensgrundlagen jüngerer und zukünftiger Generationen sei ein Abwarten, Hinhalten und Hinauszögern ethisch nicht zu rechtfertigen. Beherzigt die Politik Ihre Mahnung?

Helmut Frister (Bild: Christian Thiel/Deutscher Ethikrat)Ich habe das Gefühl, dass aktuell nicht nur in der Politik, sondern in der gesamten Gesellschaft das Thema Klimawandel merkwürdig gering geschätzt wird – obwohl es immer drängender wird. Erst vergangene Woche berichtete die Weltwetterorganisation (WMO), dass die CO₂ -Konzentration in der Atmosphäre 2024 so stark gestiegen ist wie noch nie. Dass konsequenten Maßnahmen gegen den Klimawandel eine geringere Priorität eingeräumt wird, finde ich persönlich beängstigend. Die Betonung liegt übrigens auf "persönlich", dem Ethikrat steht es nämlich nicht zu, der Politik für ihr Handeln oder Unterlassen Zensuren zu erteilen.

"Zur Not braucht es eine Wehrpflicht"

Heftig diskutiert wird die Frage, ob der Staat junge Menschen wieder zu einem Wehrdienst verpflichten sollte. Ein Thema für den Ethikrat?

Wir haben uns damit noch nicht befasst, aber grundsätzlich ist das natürlich auch ein ethisches Thema. Ich persönlich finde, dass wir prinzipiell verteidigungsfähig sein müssen. Wenn das nur mit einer Wehrpflicht möglich ist, dann brauchen wir sie auch, denn wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass die Amerikaner uns verteidigen.

Allerdings macht es keinen verlässlichen Eindruck, wenn die Koalition die im Koalitionsvertrag getroffene Vereinbarung, es zunächst mit einem Freiwilligkeits-Modell zu versuchen, ohne wirklich neue Erkenntnisse gleich wieder in Frage stellt. Das vom Bundesverteidigungsminister ursprünglich vorgeschlagene Modell, das nur dann einen Mechanismus für einen verpflichtenden Wehrdienst vorsah, "wenn die verteidigungspolitische Lage einen kurzfristigen Aufwuchs der Streitkräfte zwingend erfordert, der auf freiwilliger Grundlage nicht erreichbar ist", entsprach dem, was im Koalitionsvertrag vereinbart war.

"Schwarzarbeit bekämpfen statt Bürgergeld kürzen"

Die Pläne der Koalition für eine Reform des Bürgergelds sind ebenfalls umstritten. Es geht um die Frage, wie man arbeitsfähige Menschen schnellstmöglich dem Arbeitsmarkt zuführen kann, ohne dabei ihre Menschenwürde anzutasten. Wegen der geplanten Sanktionen und Leistungskürzungen sprechen manche schon von "Hartz-V".

Im Ethikrat haben wir uns zu der neuen Grundsicherung noch nicht positioniert. Aber ich persönlich, nicht als Vorsitzender des Ethikrates, habe dazu eine Meinung:

Mich stört, dass die Diskussion um das Bürgergeld in weiten Teilen symbolischer Natur ist. Inzwischen weiß man, dass mit den zu erwartenden Einsparungen weder die öffentlichen Haushalte saniert werden können noch damit ein wesentlicher Beitrag zur Überwindung einer wirtschaftlichen Krise geleistet wird.

Und im Hinblick auf die geplanten Verschärfungen der Sanktionen habe ich tatsächlich Bauchschmerzen: Eine Kürzung der Grundsicherung um mehr als 30 Prozent bei fehlender Kooperation, gegebenenfalls sogar bis auf null, halte ich vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und seinem Grundsatzurteil von 2019 zu Sanktionen im Sozialrecht zumindest für verfassungsrechtlich problematisch.

Der Anspruch auf staatliche Hilfe folgt aus der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip. Das BVerfG hat in seiner Entscheidung 2019 deutlich gemacht, dass es keine hinreichenden Erkenntnisse dafür gibt, dass eine Streichung von Leistungen, die über 30 Prozent hinausgeht, dazu beitragen könnte, die Hilfsbedürftigkeit der Betroffenen zu überwinden. Dass sich an dieser Einschätzung sechs Jahre später etwas Grundlegendes geändert hat, möchte ich bezweifeln.

Im Übrigen glaube ich, dass das eigentliche Problem woanders liegt, nämlich beim Phänomen Schwarzarbeit. Die Menschen sind natürlich verärgert, wenn jemand Bürgergeld empfängt, nebenher schwarzarbeitet und dann am Ende mehr hat als jemand, der im Niedriglohnsektor tätig ist. Das ist dann aber dann nicht ein Problem des Bürgergeldes, sondern eher der illegalen Schwarzarbeit. Diese gilt es effektiv zu bekämpfen, etwa durch eine Intensivierung von Kontrollen.

Organspende: "Selbstbestimmungsrecht nicht unantastbar"

Der Bundestag wird sich bald zum wiederholten Mal auf Initiative des Bundesrates mit der Widerspruchslösung bei Organspenden befassen. Danach gilt künftig jeder Mensch als Organspender, sofern er nicht zu Lebzeiten widersprochen oder seine Ablehnung auf andere Weise bekundet hat. Einer Ihrer Vorgänger hat einmal gesagt: "Wenn es um Leben und Tod gehe, dürfe Schweigen niemals als Zustimmung gewertet werden."

Diese Meinung vertrat der damalige Vorsitzende des Ethikrates, Peter Dabrock. Aber es war seine persönliche Meinung, nicht die des Ethikrates. Im Ethikrat war und ist die Widerspruchslösung umstritten. Gleichwohl planen wir den Abgeordneten des Deutschen Bundestages dadurch eine Entscheidungshilfe anzubieten, dass Mitglieder des Ethikrats in einem Webinar ihre unterschiedlichen ethischen Positionen zu dieser Frage erläutern und begründen.

Ich persönlich halte die Widerspruchslösung für sinnvoll, zumal alle bisherigen Versuche, per Aufklärung den Spendermangel zu beseitigen, fruchtlos geblieben sind. Dass die Widerspruchslösung einen gewissen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht bedeutet, finde ich rechtlich nicht problematisch: Das Selbstbestimmungsrecht ist nicht unantastbar und bleibt im Kern insofern erhalten, als dass ja jeder einer Organspende widersprechen kann.

Und auch wenn die Widerspruchslösung, wie die Erfahrungen mit ihrer Einführung in anderen Staaten gezeigt haben, nicht die absolute Patentlösung sein wird, würde sie doch ein wichtiges Signal an die Angehörigen aussenden: nämlich, dass die Spende der Normalfall ist.

"Abtreibungsreform zu riskant"

Kommen wir zum ethisch aufgeladenen Thema Schwangerschaftsabbruch: Eine unabhängige Expertenkommission hat empfohlen, dass eine Abtreibung in den ersten zwölf Wochen rechtmäßig und straffrei sein soll. Derzeit ist der Abbruch in dieser Phase zwar straffrei, aber grundsätzlich rechtswidrig. Braucht es eine Reform?

Ich bin bei dem Thema ehrlich gesagt hin und her gerissen. Wir haben ein Grundsatzurteil des BVerfG von 1993 und darin sagt das Gericht, dass das Lebensrecht des Ungeborenen auch nicht für eine begrenzte Zeit der freien Entscheidung der Mutter überantwortet werden dürfe und der Schwangerschaftsabbruch somit für die gesamte Dauer der Schwangerschaft rechtlich verboten sein müsse. Zugleich aber hat das BVerfG nichts gegen eine Lohnfortzahlung für die Zeit einer Abtreibung einzuwenden. Besonders konsistent ist das nicht.

Aber man darf nicht vergessen: Das Urteil des BVerfG hat damals für eine gewisse Befriedung gesorgt. Aus der Entscheidung resultierte eine Rechtslage, die es den Frauen heute ermöglicht, im Prinzip selbstbestimmt über die Schwangerschaft zu entscheiden – wenn auch nach einer Beratung. Das ist ein erheblicher Fortschritt im Vergleich zur vorherigen Indikationslösung.

Daher: So richtig ich es fände, dass das Stigma der Rechtswidrigkeit entfällt, habe ich dennoch die Sorge, dass eine Gesetzesänderung in Karlsruhe nicht standhalten wird, eben weil das Gericht keinen Anlass sieht, von seiner bisherigen Rechtsprechung abzuweichen. Jedenfalls halte ich das Risiko für groß, dass es so kommt. Kippt das BVerfG dann aber die Neuregelung, hätte man wieder eine heftig polarisierende Debatte und würde damit den betroffenen Frauen eher einen Bärendienst erweisen: Es würden dann noch mehr Ärzte als heute schon davor zurückschrecken, Abtreibungen vorzunehmen.

"Fehlende Dokumentation der Hauptverhandlung ist der absolute Anachronismus"

Die Bundesregierung plant eine umfassende Reform der Strafprozessordnung (StPO). Das Strafverfahren soll effizienter werden. Mehr als 90 Experten brüten gerade darüber, wie das gehen soll. Erste Ergebnisse werden für Ende des Jahres erwartet. Welche Erwartungen haben Sie als erfahrener Strafrechtler an eine solche Reform?

Dass der Strafprozess effizienter werden soll, höre ich, seitdem ich mich mit Strafrecht beschäftige – und das sind inzwischen schon ein paar Jahrzehnte. Ich muss sagen, dass mir ein Stück weit die Fantasie fehlt, wie das Vorhaben ohne Eingriffe in bewährte Rechtspositionen gelingen kann. Beim Beweisantragsrecht sehe ich zum Beispiel keinen Spielraum für weitere Eingriffe.

Und ja, es gibt manchmal auch Verfahren, in denen Verteidiger "auf Konflikt gebürstet" sind. Aber es gibt auch Richter, die durch ihren wenig kooperativen Verhandlungsstil Konflikten in der Hauptverhandlung Vorschub leisten. Das A und O für einen zügigen und fairen Strafprozess ist ein angemessen respektvoller Umgang zwischen den Prozessbeteiligten. Wenn die Verhandlungsatmosphäre vergiftet ist, zieht sich das Verfahren in die Länge. Dagegen hilft keine noch so effiziente StPO.

Was ich mir allerdings wünschen würde, ist, dass die StPO-Kommission das Thema Dokumentation der Hauptverhandlung wieder aufgreift und sich klar für eine solche ausspricht. Die gegenwärtige Rechtslage ist ein absoluter Anachronismus: Wir haben zum Teil mehrjährige Hauptverhandlungen, doch das Ergebnis der Beweiserhebungen wird nicht offiziell dokumentiert. Stattdessen findet die Urteilsberatung Jahre später auf Basis interner Mitschriften des Berichterstatters statt, anhand derer man mühsam und fehleranfällig rekonstruiert, was ein Zeuge oder der Sachverständige gesagt hat. In Anbetracht der technischen Aufzeichnungsmöglichkeiten, die es inzwischen gibt, ist dieser Zustand wirklich nicht mehr akzeptabel.

Ist das eigentlich auch ein ethisches Thema?

Ich finde schon. Das Strafverfahren ist der Wahrheitserforschung verpflichtet und im Hinblick darauf ist die fehlende Dokumentation eine massive Fehlerquelle.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Prof. Dr. Helmut Frister ist Seniorprofessor und Direktor des Instituts für Rechtsfragen der Medizin an der juristischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit November 2024 ist er Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. Dieser befasst sich nach eigenen Angaben "mit den großen Fragen des Lebens". Die aktuell 23 Mitglieder, darunter vier Rechtswissenschaftler, kommen aus den unterschiedlichsten Fachbereichen und üben ihr Amt persönlich und unabhängig aus.

Zitiervorschlag

Interview mit dem Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates: . In: Legal Tribune Online, 26.10.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/58458 (abgerufen am: 14.11.2025 )

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