Estland hat ein Gesetz verabschiedet, um den Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche auf das geistliche Leben in dem baltischen EU- und Nato-Land zu regulieren. Doch dem Präsidenten geht das zu weit, er hat das Staatsgericht angerufen.
Hoch oben über der estnischen Hauptstadt Tallinn steht die Alexander Newski Kathedrale mit ihren Zwiebeltürmen. Das beliebte Fotomotiv ist für die Mehrheit der estnischen Bevölkerung seit der Grundsteinlegung im Jahr 1894 eine Machtdemonstration des Zarenreiches – und eine bis heute andauernde Provokation. Schließlich gehört die Kathedrale der Estnischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats (EOKMP) an und untersteht folglich der geistigen Führung in der russischen Hauptstadt. Die staatlichen Stellen Estlands befürchten deshalb, dass die Kirche von dort als Propagandainstrument und zu Spionagezwecken missbraucht werden könnte. Um einer Einflussnahme Russlands auf die Bevölkerung entgegenzuwirken, haben estnische Regierungsvertreter die Geistlichen der EOKMP seit einiger Zeit aufgefordert, ihre (kirchen-)rechtliche Anbindung nach Moskau zu kappen.
Weil die Verständigung bislang aber scheiterte, haben Regierung und Opposition inzwischen eine Änderung des Kirchen- und Gemeindegesetzes beschlossen. Sie wollen die EOKMP auf diese Weise zwingen, sich vom russischen Patriarchat loszusagen. Doch der estnische Präsident hat den Gesetzentwurf dem Staatsgericht zur Überprüfung vorgelegt. Er fürchtet einen rechtswidrigen Eingriff in die Religionsfreiheit.
Betont säkulare Republik Estland
In der betont säkularen Republik Estland käme niemand, der in der Öffentlichkeit ernstgenommen werden möchte, auf die Idee, ein Kruzifix über öffentliche Gebäude zu hängen. Religiosität ist in der estnischen Gesellschaft relativ schwach institutionalisiert und die Mehrheit (ca. 58 Prozent) der insgesamt 1,3 Millionen Einwohner ist nicht an eine Glaubensgemeinschaft gebunden.
Unter denen, die sich selbst als religiös im konfessionellen Sinne bezeichnen würden, nimmt die von vielen Estinnen und Esten als Überbleibsel der russischen Herrschaft wahrgenommene Orthodoxie den ersten Platz ein. Knapp 182.000 Menschen teilen sich, mit Ausnahme einiger weniger Altgläubiger, in zwei orthodoxe Organisationen auf. Eine Minderheit untersteht als Angehörige der Estnischen Apostolischen Orthodoxen Kirche (EAOK) in geistlichen Fragen dem Patriarchen von Konstantinopel (Istanbul).
Der überwiegende Teil der Gläubigen zählt hingegen zur EOKMP – wie eben auch die Gemeinde der Newski Kathedrale, die gewissermaßen als Aushängeschild dient. Formal betrachtet verwaltet sich die EOKMP gemäß ihren Statuten selbst, sie sortiert im kanonischen Sinne aber unter den Jurisdiktionsbezirk des Moskauer Patriarchen Kyrill I., der damit ihr geistliches und letztlich auch administratives Oberhaupt ist. Kyrill, ein Ex-KGBler mit glänzenden Beziehungen zu Präsident Wladimir Putin, hat wiederholt seine Unterstützung für den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ausgedrückt und die fortgesetzte Aggression im März 2024 zu einem heiligen Krieg gegen den gesamten Westen hochstilisiert. Zudem macht sich der Patriarch die Philosophie der Russischen Welt (Russkij mir) zu eigen, nach welcher die legitime russische Einflusssphäre weit über das aktuelle Staatsgebiet hinausgehe, womit de facto auch Estlands Unabhängigkeit negiert wird.
Die Auseinandersetzungen zwischen der EOKMP und der Republik Estland
Estnische Regierungsvertreter haben seit 2022 in mehreren Treffen versucht, die Kirchenfunktionäre der EOKMP zu einer Abkehr von Moskau zu bewegen. Im Frühjahr 2024 griffen die Behörden erstmals zu restriktiven Maßnahmen, als das Visum des lokalen Oberhaupts der EOKMP und russischen Staatsbürgers, Metropolit Eugen, aufgrund von Sicherheitsbedenken nicht verlängert wurde. Der Geistliche, der mit bürgerlichem Namen Waleri Reschetnikow heißt, hatte selbst wiederholt seine Unterstützung für den russischen Angriffskrieg erkennen lassen. Das Verwaltungsgericht bestätigte die Entscheidung von Polizei und Grenzschutz.
Darüber hinaus stufte das estnische Parlament die Positionen Kyrills in einer Resolution vom Mai 2024 als Bedrohung für die staatliche Sicherheit ein und brandmarkte das Moskauer Patriarchat als "Institution, die die militärische Aggression der Russischen Föderation unterstützt". Die hiergegen von Seiten der EOKMP und des Nonnenklosters Pühtitsa in Kuremäe (Estland), das ebenfalls dem Patriarchen Kyrill untersteht, eingelegten juristischen Mittel blieben erfolglos.
Trotzdem weigern sich die Verantwortlichen unter Verweis auf ihre kirchenrechtlichen Bestimmungen beharrlich, den staatlichen Forderungen nachzukommen und ihre Bindung an das Moskauer Patriarchat zu lösen. In ihren Augen würde ein solcher Schritt wohl den Tatbestand eines kirchenrechtlichen Verbrechens erfüllen. Kleinere Anpassungen der EOKMP, wie eine Namensänderung (Estnische Christlich-Orthodoxe Kirche ECOK) reichten der Regierung wiederum nicht aus. Das Angebot der Estnischen Apostolischen Orthodoxen Kirche, die Gemeinden der EOKMP unter ihrem Schirm als autonome kirchliche Einheiten aufzunehmen, wiesen die Geistlichen ab.
Änderungen des estnischen Kirchen- und Gemeindegesetzes
Infolgedessen versuchen die Regierung und große Teile der Opposition seit Januar 2025, ihre Forderungen zwangsweise durchzusetzen und die Verbindungen der EOKMP nach Moskau gesetzlich zu untersagen.
Die dafür vorgesehenen Änderungen im Kirchen- und Gemeindegesetz bestehen vordergründig aus neuen Vorgaben zur formalen Organisation religiöser Gemeinschaften im Gewand des Gefahrenabwehrrechts. Den Gemeinden wird verboten, wirtschaftlich, auf Grundlage der Satzung oder anderer Dokumente, auf denen ihre Tätigkeit beruht, mit einer Vereinigung bzw. einem religiösen Führer im Ausland verbunden zu sein, wenn diese eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder die verfassungsmäßige Ordnung darstellen.
Wenig überraschend soll eine solche Gefahr unter anderem dann anzunehmen sein, wenn eben jene ausländische Institution militärische Aggressionen unterstützt oder zur Beseitigung der Unabhängigkeit des estnischen Staates aufruft. Zugleich werden Personen aus Leitungspositionen ausgeschlossen, deren Visum aus Gründen der nationalen Sicherheit in den vergangenen fünf Jahren nicht verlängert wurde. Die vorrangige Zielrichtung der Norm ist wohl eindeutig, wobei der Gesetzgeber nach eigener Aussage mit dem Vorhaben auch (zukünftigen) Islamismus in den Blick nehmen will.
Doch schon eine erste Fassung des Gesetzes blockierte der Präsident Estlands, Alar Karis, wegen verfassungsrechtlicher Bedenken, da er eine Verletzung der Glaubens- und Versammlungsfreiheit befürchtete. Das Parlament schwächte daraufhin einige Passagen ab, ließ den Kern des Gesetzes aber unberührt und verabschiedete im September eine entsprechende Neufassung. Daraufhin machte Karis von seinem uneingeschränkten (!) verfassungsrechtlichen Prüfungsrecht erneut Gebrauch und legte die Normen dem Staatsgericht zur Kontrolle vor.
Die Bibel als Gefahr für die öffentliche Sicherheit?
Dass ausgerechnet die Religions- und Glaubensfreiheit ein Fall für das höchste Gericht Estlands wird, ist unüblich. Aufgrund der geringen gesellschaftlichen Bedeutung von Religion für große Teile der Bevölkerung habe das in § 40 der Verfassung manifestierte Grundrecht in der Rechtsprechung bislang keine besondere Rolle gespielt, sagt Assoc. Professorin Paloma Krõõt Tupay von der Universität Tartu, die auch promovierte deutsche Volljuristin ist. Da die estnische Verfassung ihren Grundsätzen nach mit dem Grundgesetz verwandt ist (unter anderem der Bundespräsident a.D. Roman Herzog war beratend bei ihrer Ausarbeitung tätig), ließe sich bei der Auslegung der Glaubensfreiheit aber auch die deutsche Grundrechtsdogmatik mit heranziehen, so Tupay.
In dem nur zehn Seiten langen Schreiben an das Staatsgericht nimmt Präsident Alar Karis deshalb eine mustergültige Grundrechtsprüfung vor, die im Vergleich zur deutschen (Verfassungs-) Rechtssprache von bestechender Klarheit und Bescheidenheit ist. Das Staatsoberhaupt sieht danach in dem Gesetz schlicht einen massiven Eingriff in die Glaubens- und Versammlungsfreiheit, der auch mit dem legitimen Ziel der staatlichen Sicherheit nicht mehr zu rechtfertigen sei. So bezweifelt Karis insbesondere die Erforderlichkeit der Regelungen, die nicht bloß den formal-administrativen Kontakt zu den besagten ausländischen Personen unterbinden würden. Da eine Kirchensatzung die Lehrgrundlagen der religiösen Gemeinschaft festlegen muss, dürften im Ergebnis selbst die geistlichen Grundprinzipien der Russisch-Orthodoxen Kirche in Estland keine Verbindungen mehr zum Moskauer Patriarchat aufweisen. Das Gesetz zielt somit aus seiner Sicht auf die Fundamente einer jeden Kirchengemeinde und taste den Kernbereich individueller Glaubensausübung an.
Die Gesetzesbegründung stellt sich hingegen auf den Standpunkt, dass die persönliche Glaubensfreiheit keineswegs beeinträchtigt, sondern sogar geschützt würde, indem feindliche Desinformation von der reinen Glaubenslehre ferngehalten wird.
Präsident Karis sieht jedoch ein milderes Mittel: Ein selektives Verbot staatsgefährdender Lehrsätze bzw. die Aufhebung rein administrativer und wirtschaftlicher Verknüpfungen würden genügen, um das Ziel des Gesetzes in Kombination mit der geltenden Rechtslage zu erreichen. Zudem seien die tatbestandlichen Vorgaben zu unbestimmt, um die Eingriffsintensität rechtfertigen zu können. Etwas zugespitzt insinuiert der Präsident, dass bei extensiver Auslegung sogar die Bibel als verbotene Verknüpfung nach Moskau angesehen werden könnte. Nicht nur die Äbtissin des Klosters Pühtitsa vermutet, dass es die Regierung trotz öffentlichen Dementis auf ein Verbot der EOKMP abgesehen hat.
Eine undankbare Aufgabe für das Staatsgericht
Das höchste Gericht der Republik Estland steht jetzt vor der Aufgabe, ein Grundsatzurteil zur Glaubensfreiheit mit erheblichen politischen Auswirkungen fällen zu müssen. Weil Estland kein eigenständiges Verfassungsgericht hat, setzt sich die mit der Entscheidung betraute Verfassungsrevisionskammer aus neun Richterinnen und Richtern zusammen, die regulär ihren Dienst in der Zivil-, Straf- oder Verwaltungskammer des Staatsgerichts versehen. Professorin Tupay hält es aber für sehr wahrscheinlich, dass das Gericht in seiner vollen Besetzung zusammenkommt, um über die heikle Frage zu beraten.
Mit viel Gegenliebe für ihr Urteil können die in Tartu ansässigen Richterinnen und Richter nicht rechnen, ganz gleich, wie sie sich entscheiden. Die Russisch-Orthodoxe Kirche erfährt außerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft wenig Sympathie in der estnischen Gesellschaft. Und die Anwälte der EOKMP haben ihrerseits bereits angekündigt, notfalls vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu ziehen.
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Der Autor Frederik Looft ist Diplom-Jurist und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Professor Dr. Steffen Schlinker an der Universität Greifswald. Er lebt zeitweise in Tallinn. Er wurde bei dem Beitrag von Assoc. Professorin Paloma Krõõt Tupay sowie Carl Philip Laantee Reintamm mit Hintergrundinformationen, Anmerkungen und Korrekturen fachkundig unterstützt.
Streit um die Russisch-Orthodoxe Kirche in Estland: . In: Legal Tribune Online, 01.11.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/58510 (abgerufen am: 07.11.2025 )
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