Die Abgrenzung von Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit fällt schon im Studium schwer. Wie Juristen das Problem in der Praxis angehen, hat nun eine Studie der FU Berlin untersucht. LTO präsentiert die Ergebnisse.
Eine Bauunternehmerin setzt ihre Mitarbeiterin nicht im Juli, sondern im Oktober auf der Baustelle ein, ein Wintereinbruch verzögert daraufhin den Bau. Nahm die Unternehmerin das willentlich in Kauf? Ein Heizungsbauer erkennt, dass sein neues Modell bei Berührung zu Verbrennungen führen kann, er passt das Modell an, aber ein Restrisiko von zehn Prozent bleibt bestehen. Nach der Auslieferung kommt es bei mehreren Kunden zu Verbrennungen, ein Fall vorsätzlicher Körperverletzung? Diese und andere Sachverhalte beurteilten im vergangenen Jahr über 2.000 Jurist:innen aus Justiz, Anwaltschaft und Referendariat im Rahmen einer Studie von Professor Dr. Andreas Engert von der Freien Universität Berlin und Dr. Sven Asmussen von der Humboldt-Universität Berlin. Sie wollten herausfinden, wie Jurist:innen in der Praxis Vorsatz und Fahrlässigkeit voneinander abgrenzen (LTO berichtete).
Die Proband:innen beurteilten dafür drei Sachverhalte und beantworteten Fragen zu ihrem grundsätzlichen Verständnis von Vorsatz. Es zeigte sich: Die Uneinigkeit bei der Abgrenzung zieht sich ab dem Studium bis in die Praxis fort. Schon bei der Frage nach dem Wesen des Vorsatzes gehen die Meinungen auseinander. Nur eine knappe Mehrheit schließt sich dem Verständnis der Rechtsprechung an, nach dem Vorsatz den subjektiven Geisteszustand meint, der anhand tatsächlicher Umstände ermittelt wird. Doch auf welche Faktoren kommt es dabei an?
Die Befragten gaben an, die Schadenseintrittswahrscheinlichkeit, das Eigeninteresse und die Sorgfaltswidrigkeit des Handelnden seien für sie die wichtigsten Indizien bei der Feststellung von Vorsatz. Das zeigte sich auch in den Beurteilungen der Sachverhalte. Auffällig war hier: Hatten die Befragten zwei sonst identische Sachverhalte zum Vergleich, wurde im Fall mit dem höheren Eigeninteresse bzw. der höheren Eintrittswahrscheinlichkeit der Vorsatz häufiger bejaht, als wenn der Fall alleinstehend bewertet wurde. Die juristische Beurteilung hängt also auch davon ab, ob Jurist:innen ein Szenario zum Vergleich vor Augen haben.
Überraschung bei der Schadenshöhe
Nicht so eindeutig waren die Ergebnisse allerdings, wenn sich in den Sachverhalten nur die Höhe des Schadens veränderte. Schon in der allgemeinen Befragung, welchen Einfluss die Schadenshöhe auf die Bewertung haben sollte, waren sich die Befragten uneinig: 23 Prozent hielten einen hohen Schaden für ein Indiz gegen vorsätzliches Handeln, 42 Prozent hielten ihn für irrelevant und etwa ein Drittel sah einen hohen Schaden als Hinweis für Vorsatz.
Überraschend wurde es für die Forscher bei der Beurteilung der Sachverhalte. In den Fällen, in denen die Höhe des Verzugsschadens auf dem Bau variierte, tendierten die Befragten leicht dazu, einem höheren Schaden eine tathemmende Wirkung zuzuschreiben und gingen eher von Fahrlässigkeit aus. Anders sah das in dem strafrechtlichen Heizungsfall aus: Hier nahmen die Befragten bei gleicher Eintrittswahrscheinlichkeit eher Vorsatz an, wenn es um lebensgefährliche Kohlenmonoxidvergiftungen ging als um einfache Hautverbrennungen. Die Forscher sind sich unsicher, warum die Schadensintensität sich so unterschiedlich auf die Bewertung der Fälle auswirkte. Die Inhaber der Studie fragten daraufhin nach. Eine mögliche Erklärung könnte darin liegen, dass die Teilnehmenden eine Haftung im Heizungsfall eher für geboten hielten. "Das kann daran liegen, dass die Fälle unterschiedliche Schadenstypen betreffen – Vermögensschäden gegen Körperschäden. Es könnte auch an Unterschieden zwischen Straf- und Zivilrecht liegen. Das scheinen uns beides naheliegende Interpretationen. Es könnte aber natürlich auch an anderen Unterschieden zwischen beiden Fällen liegen", sagte Sven Asmussen gegenüber LTO.
Das Judiz der Jurist:innen unterscheidet sich also bei der Frage, wie man Vorsatz feststellen kann. Praktiker sind deshalb gut beraten, sich auf unterschiedliche Auffassungen einzustellen und auch mit objektiven Punkten wie der Gebotenheit einer Haftung zu argumentieren. Vor allem aber kann es helfen, ähnliche Szenarien aufzuzeigen, denn im direkten Vergleich wirken sich Faktoren wie Eigeninteresse oder Eintrittswahrscheinlichkeit deutlicher auf die Beurteilung aus.
Über die Relevanz der Ergebnisse für die Praxis hinaus erhoffen sich die Betreiber der Studie, die dogmatische Diskussion voranzubringen. Diese würde stark davon profitieren, wenn sie sich auch mit dem tatsächlichen Vorsatzverständnis der Jurist:innen auseinandersetzt. Der vollständige Ergebnisbericht ist auf der Website der FU Berlin veröffentlicht.
Studie zu Abgrenzungsfragen in der Praxis: . In: Legal Tribune Online, 23.01.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56403 (abgerufen am: 07.02.2025 )
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