Erdogan und die Justiz: "Vielen Türken spricht Böh­m­er­mann aus der Seele"

von Pia Lorenz

12.04.2016

2/2: Theorie: türkische Strafrechtslehre entspricht deutscher

LTO: Wie definiert das türkische Strafrecht denn Beleidigungen, und gibt es einen besonderen Maßstab  für solche des Staatsoberhauptes?

Pinar: Eine Beleidigung ist auch im türkischen Recht eine bewusst herabwürdigende Äußerung über eine Person. Der Maßstab für die Präsidentenbeleidigung  ist kein anderer. Das wird nur im Strafmaß anders berücksichtigt.

LTO: Gibt es gravierende Unterschiede gegenüber der deutschen rechtlichen Bewertung von Äußerungen als Beleidigung? Wie bewertet das türkische Recht Meinungs- und Kunstfreiheit in diesem Kontext?

Pinar: Die türkische Strafrechtslehre entspricht ganz genau der deutschen, weil sie aus dem deutschen Recht stammt. Auch das türkische Strafrecht definiert Beleidigung als eine herabwürdigende Äußerung über menschliche Schwächen. Das wird geregelt im § 299 des Türkischen Strafgesetzbuchs. Da steht aber nur, dass, wer den Präsidenten beleidigt, bestraft wird. In der Literatur wird dann erläutert, dass nicht die Funktionsweise des Amtes, sondern nur seine Ehre geschützt wird. Auch die türkische Rechtswissenschaft geht davon aus, dass die Äußerung auch gesellschaftlich als herabwürdigend angesehen werden muss, also nicht nur von der betroffenen Person so empfunden werden darf.

Außerdem muss die Äußerung ernst gemeint sein. Bei der Satire liegt die Grenze zur Strafbarkeit bei der Frage, ob die Überzeichnung der menschlichen Schwächen ernst gemeint ist in Bezug auf diese Person. Auch eine Satire kann beleidigend sein, wenn diese Schwelle überschritten ist. Nämlich dann, wenn man die menschliche Schwäche ganz speziell hervorhebt, um eine Herabwürdigung der Person zu erreichen.

Praxis: "Die Instanzrichter unterschreiben, was kommt"

LTO: Sie kritisieren immer wieder heftig den Umgang der Türkei mit grundlegenden Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, unter anderem in Bezug auf Anwälte, die dort an ihrer Berufsausübung gehindert werden. Hat sich Ihrer Meinung nach unter Präsident Erdogan auch die Bewertung von Kunst und Meinungsfreiheit durch die Justiz verändert?

Pinar: Von Gesetzes wegen werden Kunst- und Meinungsfreiheit in der Türkei genauso bewertet wie in Deutschland. Das türkische Verfassungsgericht entscheidet auch häufig für die Meinungsfreiheit, zuletzt bei den wegen Spionage und Umsturzversuchs inhaftierten Journalisten der Zeitung Cumhuriyet. Ihre Haftbefehle hob das Verfassungsgericht im Februar auf, wenn auch wegen mangelnder Fluchtgefahr.

In der praktischen Handhabung an den türkischen Instanzgerichten sieht das anders aus. Die Richter dort unterschreiben alles, was kommt. Sie haben so viel Angst, versetzt oder gar verhaftet zu werden, dass in der Justiz nicht allzu viel Freiheit herrscht. 

Die Bewertung von Kunst-  und Meinungsfreiheit hat sich insofern unter Erdogan sehr verändert - wobei auch die Vorgängerregierung nicht besonders rechtsstaatlich war. Aber mit den heutigen Zahlen, nicht nur zur Präsidentenbeleidigung, waren die Zustände damals nicht vergleichbar.

"Böhmermann hat vieles richtig gemacht"

LTO: Sie als Strafverteidigerin: Wagen Sie eine Einschätzung, ob Jan Böhmermann sich mit seinem Erdogan-Gedicht strafbar gemacht hat?

Pinar: Ob nach deutschem oder nach dem im Wesentlichen gleichen türkischen Recht: Das Gedicht allein hätte ohne den Kontext seiner Ankündigung die Grenze meines Erachtens überschritten. Aber die angekündigte Überspitzung und der Kunstgriff, Erdogan zu erklären, was in Deutschland strafbar wäre, exkulpiert ihn meines Erachtens letztendlich. Entscheiden muss das natürlich die Staatsanwaltschaft, aber wenn ich seine Verteidigerin wäre, würde ich so argumentieren.

Jan Böhmermann hat sicherlich aus seiner Sicht vieles richtig gemacht. Er bekommt maximal eine Geldstrafe, aber eine bessere Bühne gibt es für ihn doch gar nicht. Und mindestens 50 Prozent der türkischen Bevölkerung spricht Jan Böhmermann sicherlich aus der Seele.

Gül Pinar ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Strafrecht in Hamburg. Für den Deutschen Anwaltverein beobachtet sie die Justiz in der Türkei.

Die Fragen stellte Pia Lorenz.

Zitiervorschlag

Pia Lorenz, Erdogan und die Justiz: "Vielen Türken spricht Böhmermann aus der Seele" . In: Legal Tribune Online, 12.04.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19044/ (abgerufen am: 16.04.2024 )

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