Das BSG hat arbeitslosen Unionsbürgern einen Anspruch auf Sozialhilfe zugesprochen. Am Freitag berät der Bundesrat über einen Gesetzentwurf, der die Folgen des Urteils auffangen soll. Zu einem hohen Preis, kommentiert Constanze Janda.
Der Fall Alimanovic hat es zu einiger Berühmtheit gebracht. Die schwedische Staatsangehörige lebte mit ihren Kindern in der Bundesrepublik und hatte sich immer wieder mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Als sie erneut arbeitslos wurde, konnte sie keine Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende beziehen: § 7 Sozialgesetzbuch (SGB) II schließt Ausländer aus, die sich allein zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland aufhalten.
Die Regelung ist stark umstritten. Sie wurde für europarechtswidrig gehalten, da sie Unionsbürger diskriminiert, obwohl das koordinierende Sozialrecht in der VO (EG) 883/2004 vorgibt, dass Angehörige anderer Mitgliedstaaten bei der Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende wie Deutsche behandelt werden müssen. Die Befürworter der Vorschrift verwiesen darauf, dass Arbeitslose, die nicht über ausreichendes Einkommen oder Vermögen verfügen und die im Aufenthaltsstaat weniger als ein Jahr gearbeitet haben, nach der Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG kein Aufenthaltsrecht haben.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die Rechtsfrage im September letzten Jahres geklärt: Das Recht auf Gleichbehandlung könne nur beanspruchen, wer sich rechtmäßig im Inland aufhalte (EuGH, Urt. v. 15.09.2015, Az. C-67/14). Kurze Zeit darauf leitete das Bundessozialgericht (BSG) aus dem im Grundgesetz gründenden Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz her, dass zumindest Ausländer mit einem verfestigten Aufenthalt Sozialhilfe als Ermessensleistung beziehen können. Von einer solchen Verfestigung sei auszugehen, wenn der Aufenthalt bereits länger als sechs Monate andauere. Dieses Urteil zog erhebliche Kritik der für die Finanzierung der Sozialhilfe zuständigen Kommunen nach sich. Der Gesetzgeber reagierte und legte im Frühjahr 2016 einen Entwurf zur Änderung des SGB II und des SGB XII vor.
Was die Bundesregierung plant
Der Entwurf zielt einerseits darauf ab, die bislang recht unterschiedlichen Regelungen zur Leistungsberechtigung von Ausländern in der Grundsicherung und in der Sozialhilfe zu vereinheitlichen.
Andererseits soll der Anspruch stark eingeschränkt werden: Wie schon bisher gilt eine dreimonatige Wartefrist für Personen, die neu in die Bundesrepublik eingereist sind. Dient ihr Aufenthalt allein der Arbeitsuche, erhalten sie auch nach Ablauf der Wartezeit keine Leistungen.
Ausländer, die nach Maßgabe des Unionsrechts kein Aufenthaltsrecht haben – weil sie weder Arbeitnehmer noch Selbstständige sind noch über ausreichende finanzielle Mittel zur eigenständigen Deckung ihres Lebensunterhalts verfügen – sollen keine Grundsicherung (SGB II) und keine Sozialhilfe (SGB XII) beziehen. Gleiches soll für in Ausbildung befindliche Kinder von ehemaligen Arbeitnehmern aus anderen EU-Staaten gelten. Erst nach fünf Jahren, beginnend ab der Anmeldung des Wohnsitzes bei den Meldeämtern, soll die Gleichstellung mit Deutschen erfolgen.
Wer keinen Anspruch hat, soll Übergangsleistungen in Form von Sozialhilfe erhalten, um den Zeitraum bis zu seiner freiwilligen Ausreise aus dem Bundesgebiet zu überbrücken. Diese werden innerhalb von zwei Jahren erbracht – und zwar für maximal einen Monat innerhalb dieses Zeitraums.
Wer länger in Deutschland bleibt, erhält keinerlei finanzielle Unterstützung mehr und wird auf diese Weise gezwungen, das Land zu verlassen. Die Übergangsleistungen beschränken sich auf die Sicherung der physischen Existenz, d.h. auf Mittel für Ernährung und Hygiene, Unterkunft und Heizung sowie die ärztliche Behandlung in medizinischen Notfällen. Die Kosten der Rückreise in das Herkunftsland will die Große Koalition als Darlehen gewähren. So weit, so konform mit der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Alimanovic. Verfassungskonform aber sind die Pläne nicht.
2/2: Abschreckungseffekt hat in der Existenzsicherung keine Berechtigung
Die vorgeschlagene Lösung mag den Interessen der traditionell für die Armenfürsorge zuständigen Kommunen entsprechen. Sie bedient überdies die Reflexe derer, die die Gefahr einer ungezügelten massenhaften "Armutsmigration" beschwören.
Die Verfassungsmäßigkeit des Entwurfs aber darf man bezweifeln. Aus der Menschenwürdegarantie in Art. 1 Grundgesetz (GG) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz abgeleitet. Dabei handelt es sich um ein Menschenrecht. Der Achtungsanspruch hängt also weder von der Staatsangehörigkeit oder dem Aufenthaltsstatus ab noch ist er an irgendeine Form von Wohlverhalten gekoppelt. Auch die Menschenwürde derer, die dies vermeintlich nicht verdienen, ist zu achten und zu gewährleisten. Das BVerfG hat im Hinblick auf Zuwanderer insofern den Satz geprägt, dass die Menschenwürde migrationspolitisch nicht relativierbar sei.
Der Gedanke der Abschreckung von Zuwanderern hat im Recht der Existenzsicherung folglich keinerlei Berechtigung. Auch die als Zugeständnis zur Menschenwürdegarantie vorgesehenen Übergangsleistungen widersprechen verfassungsrechtlichen Anforderungen, denn die Menschenwürde ist jederzeit in vollem Umfang zu gewährleisten. Damit sind weder die zeitliche Beschränkung noch die Reduzierung der Leistungen auf das zum Überleben Notwendige und die Vorenthaltung des sozio-kulturellen Existenzminimums vereinbar.
Unionsbürger werden über das Sozialrecht zur Ausreise gezwungen
Zwar mag man einwenden, dass es Unionsbürgern – im Gegensatz zu Asylsuchenden und Flüchtlingen – durchaus möglich sei, die Bundesrepublik zu verlassen. Dieses Argument verkennt indes die europarechtliche Dimension: Mit der Einführung der Unionsbürgerfreizügigkeit sollte allen EU-Bürgern die volle Bewegungsfreiheit in allen Mitgliedstaaten eingeräumt werden, unabhängig davon, ob sie einer Beschäftigung nachgehen oder nicht.
Offenbar ist man nicht bereit, die Konsequenzen daraus zu tragen. Denn die Unionsbürgerrichtlinie verbietet die Ausweisung allein aufgrund der Hilfebedürftigkeit bzw. des Bezugs von Sozialhilfeleistungen. Da man also den Aufenthalt arbeitsuchender, mittelloser Unionsbürger nicht ohne weiteres zwangsweise beenden kann, verlegt man sich darauf, die Ausreise mittelbar über das Sozialrecht zu erzwingen. Die Menschenwürde wird also wieder und weiter aus migrationspolitischen Erwägungen relativiert. In Zeiten des bröckelnden Konsenses über die europäischen Werte, insbesondere im Hinblick auf die allgemeine Bewegungsfreiheit, die Gleichheit und die innereuropäische Solidarität befindet sich der Gesetzgeber insofern in "guter" Gesellschaft.
Die SGB II-Änderung hat vor allem symbolische Wirkung: Arbeitssuchenden Unionsbürgern wird signalisiert, dass sie hier nicht willkommen sind; den Stammtischen wird signalisiert, dass etwas gegen "Armutsmigration" unternommen wird. Dabei gibt der Gesetzgeber in der Begründung des Entwurfs selbst zu, dass nur wenige Personen von den Leistungseinschränkungen betroffen sein werden, dass also die Theorie vom gern zitierten "Wohlfahrtsmagneten" offensichtlich jeder Grundlage entbehrt. Ausgeblendet wird die Gerechtigkeit im Einzelfall.
Offensichtlich fehlt dem Gesetzgeber das Vertrauen in die Wirkmacht seiner Gesetze: Der Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende setzt nämlich schon immer voraus, dass die Leistungsberechtigten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. Weder die Einreise zur Arbeitsuche noch die Einreise zum Leistungsbezug in der "sozialen Hängematte" erfüllen dieses Kriterium. Es wäre ein Leichtes, dies in der öffentlichen Debatte klarzustellen – aber offenkundig nicht hinreichend spektakulär.
Die Autorin Prof. Dr. Constanze Janda ist Professorin für Sozialrecht und Verwaltungswissenschaft an der Universität Speyer. Sie ist Mitbegründerin des Netzwerks Migrationsrecht und setzt sich seit vielen Jahren mit den Rechtsfragen der sozialen Absicherung von Migranten auseinander.
Prof. Dr. Constanze Janda, Neue Regelungen zur Sozialhilfe für Ausländer: Bundesregierung will Anspruch von EU-Bürgern auf "Hartz IV" drastisch einschränken . In: Legal Tribune Online, 03.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21049/ (abgerufen am: 28.03.2024 )
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