Lohnfortzahlung im Krankheitsfall: Das meiste Geld gibt es in Deut­sch­land

Gastkommentar von Prof. Dr. Gregor Thüsing und Simon Mantsch und Alexandra Ritter

15.01.2025

Der Krankenstand bei Arbeitnehmern ist hoch – und zwar unabhängig davon, ob das an mehr Krankheit oder neuer Erfassung liegt. Das europäische Ausland geht mit Krankheit anders um als Deutschland. Liegt dort eine Lösung?

In den vergangenen Tagen wurde hitzig diskutiert. Ist das deutsche Modell der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall überholungsbedürftig? Oder um die sicherlich überspitzte Titelzeile der Bild aufzugreifen: "Machen die Krankentage unseren Wohlstand kaputt?". Bereits im Oktober vergangenen Jahres sorgte die Kritik von Mercedes-Chef Ola Källenius an dem hierzulande überdurchschnittlich hohen Krankenstand im internationalen Vergleich für Aufruhr. Auch Allianz-CEO Oliver Bäte schloss sich der Kritik jüngst an. Seine Forderung nach einem Karenztag, wonach Arbeitnehmer für ihren ersten Krankheitstag keine Entgeltfortzahlung des Arbeitgebers mehr erhalten sollen, stößt jedoch mehrheitlich auf Ablehnung.  

Die grundlegende Kritik von der Arbeitgeberseite verwundert wenig, denn gewiss ist die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für sie eine nicht nur unerhebliche Belastung. Folgt man einer jüngeren Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), mussten Arbeitgeber im Jahr 2023 eben hierfür insgesamt 76,7 Milliarden Euro aufwenden – eine Rekordsumme, die sich ohne Reform des Entgeltfortzahlungsrechts auch zukünftig wohl kaum ändern wird. Allerdings kann das für sich genommen gewiss nicht genügen, um die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gesetzlich neu auszurichten.

Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung aus dem EntgFG

Doch wie genau ist der deutsche Rechtsrahmen ausgestaltet? Ist der Arbeitnehmer arbeitsunfähig krank, so sichert ihm § 3 Entgeltfortzahlungsgesetz (EntgFG) einen Anspruch gegen seinen Arbeitgeber auf Entgeltfortzahlung für einen Zeitraum bis zu sechs Wochen. Eine Pflicht zum Nachweis der Arbeitsunfähigkeit durch eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bedarf es bei Kurzerkrankungen von bis zu drei Tagen gem. § 3 EntgFG im Grundsatz nicht, wobei der Arbeitgeber eine solche gleichwohl einfordern kann. Jedenfalls aber ist der Arbeitnehmer verpflichtet, dem Arbeitgeber unverzüglich die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer mitzuteilen. Der Krankheitsgrund muss ihm nicht mitgeteilt werden – der ergibt sich auch nicht aus der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Schon allein deshalb wird es dem Arbeitgeber bei Vorlage einer solchen Bescheinigung nur selten gelingen, den arbeitnehmerseitigen Anspruch auf Entgeltfortzahlung durch "Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung" zu unterbinden.

Nicht zu Unrecht gilt das deutsche Entgeltfortzahlungsrecht daher als durchaus arbeitnehmerfreundlich. Dadurch enthält es aber zuweilen auch Schlupflöcher zugunsten derer, die nur "blaumachen" wollen und aus medizinischer Sicht arbeitsfähig sind. Doch auch die eher reformwilligen Parteien lassen in ihren Bundestagswahlprogrammen bei Fragen einer Anpassung des Entgeltfortzahlungsrechts Zurückhaltung walten. Letztlich scheint das Thema dann wohl doch zu sensibel und das Risiko des Verlustes potenzieller Wähler zu groß.  

Auch der Blick in die Vergangenheit dürfte viele zur Zurückhaltung mahnen. Im Jahr 1996 war es die Regierung Kohl (CDU), die eine Reform des Entgeltfortzahlungsrechts durchsetzte und die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auf 80 Prozent senkte. Die Reform sollte jedoch nur kurz währen, weil die rot-grüne Regierung unter Bundeskanzler Schröder sie schon kurze Zeit später rückgängig machte. Sie war aber ohnehin auch deshalb wenig wirkmächtig, da viele Branchentarifverträge im Krankheitsfall ohnehin einen Lohnfortzahlungsanspruch in voller Höhe vorsahen, an dem sich auch durch die gesetzliche Reform regelmäßig nichts änderte. Denn damals wie auch heute gilt im Grundsatz: Ein Tarifvertrag, der für die tarifgebundenen Arbeitnehmer vorteilhaftere Regelungen enthält als das Gesetz, hat Vorrang.

Der Rechtsrahmen in anderen Ländern

Andere Rechtsordnungen enthalten ebenfalls Regelungen zum Recht auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, wenn auch sie sehr unterschiedlich geartet sein können. Zumindest im europäischen Vergleich mag dies zunächst verwunderlich wirken, wird doch vieles im Arbeitsrecht durch das europäische Recht überlagert. Nicht so jedoch im Entgeltfortzahlungsrecht. Hierzu gibt es keinerlei Vorgaben aus Brüssel. Ganz unterschiedliche Regelungen in den Mitgliedstaaten sind die Konsequenz.  

So erhalten die Arbeitnehmer in Spanien erst vom vierten Tag an und begrenzt bis zum fünfzehnten Krankheitstag eine Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber. Die Iren kannten lange Zeit überhaupt keinen gesetzlichen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Seit 2022 regelt der "Sick Leave Act" die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Seitdem existiert auch dort ein Anspruch auf bezahlte Krankheitstage, beginnend mit drei Tagen im Jahr 2023, die bis 2026 sukzessive auf zehn Tage pro Jahr steigen. Gezahlt werden 70 Prozent des Gehalts bis maximal 110 Euro am Tag. Bei unseren Nachbarn in Frankreich wiederum erhalten die Arbeitnehmer während der ersten 30 Tagen 90 Prozent ihres Bruttolohnes und für weitere 30 Tage zwei Drittel des Bruttolohnes. So zumindest die Gesetzeslage, obgleich tarifvertraglich abweichende Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer möglich bleiben.

Krankheitstage im internationalen Vergleich

Viele Länder machen es also anders und schränken den Entgeltfortzahlungszeitraum stärker ein als in Deutschland oder sehen – anders als hierzulande – einen prozentualen Entgeltverlust als Regelfall vor. Doch ist das deutsche Recht deshalb zu liberal? Pauschal wird man dies nicht beantworten können, auch wenn einige dies mit der Annahme bestätigt zu sehen scheinen, dass sich der Krankenstand in Deutschland als überdurchschnittlich hoch erweise. So zumindest der oftmals erhobene Vorwurf gegen die hierzulande geltenden Regelungen. Doch stimmt das wirklich? Nach Angaben der Techniker Krankenkasse waren die bei ihr versicherten Erwerbstätigen im Kalenderjahr 2023 im Durchschnitt 19,4 Tage krank. Eine gewiss beeindruckende Zahl, die unter Zugrundelegung des zur Verfügung stehenden statistischen Materials im internationalen Vergleich unzweifelhaft überdurchschnittlich hoch zu sein scheint.

Solche statistischen Betrachtungen sind hilfreich, gleichsam aber mit Vorsicht zu genießen. Denn insoweit kommt es auch darauf an, ob das für Deutschland erhobene statistische Material mit dem des Auslands ohne weiteres vergleichbar ist. So wird für Deutschland etwa vermutet, dass der statistisch ruckartige Anstieg an Krankheitstagen im Vergleich zu früheren Jahren auf die Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zurückzuführen ist. Während es zuvor noch vom Arbeitnehmer abhing, ob er die ausgestellte Bescheinigung an die Krankenkassen weiterleitete, geschieht dies nunmehr automatisch, wodurch die Fälle umfassend dokumentiert sind. Es ist daher vorsichtig zu mutmaßen, dass nicht die Krankheitstage gestiegen sind, sondern vielmehr nur deren statistische Erfassung besser geworden ist. Hinzu kommt aber auch, dass das deutsche Renteneintrittsalter im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, bspw. Frankreich, höher ist. Ältere Menschen sind jedoch per se anfälliger für Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder auch Krebs.

All das lässt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zu dem Befund kommen, dass in Deutschland kein besorgniserregender Krankenstand zu verzeichnen ist. Dennoch bleibt er hoch. Ausgehend von 221 Arbeitstagen, die das noch junge Jahr 2025 unter Zugrundelegung einer Fünftagewoche und bereits in Abzug gebrachter geläufiger 30 Urlaubstage vorzuweisen hat, wäre bei hypothetisch 19,4 Krankheitstagen auch im Jahr 2025 beinahe jeder elfte Arbeitstag ein Krankheitstag. Ein durchaus beachtlicher Befund.

Einführung eines "Karenztages" als Lösung?

Man kann also nicht abstreiten, dass der gegenwärtige Krankenstand ein gewisses Unwohlsein begründet. Die vom deutschen Gesetzgeber zugrunde gelegte Prämisse, der Gesundheit des Arbeitnehmers den Vorrang vor den Interessen des Arbeitgebers einzuräumen, ist und bleibt jedoch unzweifelhaft richtig. Man kann sich aber dennoch fragen, ob es ein alle Interessen angemessen berücksichtigendes System der Entgeltfortzahlung geben kann, das sich gegenüber dem jetzigen als "besser" erweist. Sicherlich zu kurz gegriffen erscheint der Vorschlag, die Dauer der Entgeltfortzahlung von gegenwärtig sechs Wochen zu reduzieren. Auch heute ist eine Beanspruchung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für den gesetzlich möglichen Zeitraum eine absolute Ausnahme und keinesfalls die Regel. Dass sich daran zeitnah etwas ändern wird, lässt sich kaum absehen. Eine Herabsetzung des Zeitraums gliche daher eher einer Regelung wegen des Regelungswillens als einer tatsächlichen Neuakzentuierung.

Vereinzelt hat man sich in den vergangenen Tagen für die Einführung eines "Karenztages" ausgesprochen. Gemeint ist damit die Nichtvergütung des Arbeitnehmers an seinem ersten Krankheitstag getreu dem Motto: Derjenige, der "wirklich krank" ist, wird sich dennoch krankmelden und derjenige, der einfach nur nach einem freien Tag strebt, wird sich die Krankmeldung bei gleichzeitigem Entgeltverlust zumindest gut überlegen. Man muss kein Psychologe sein, um die Sinnhaftigkeit eines solchen Ansatzes zu hinterfragen. Denn letztlich animiert eine solche Regelung auch den "wirklich Kranken", seiner Arbeit trotz Arbeitsunfähigkeit nachzugehen – zumindest dann, wenn er sich finanziell größere Sprünge und mithin auch den Entgeltverlust kaum erlauben kann.  

Auch für den Arbeitgeber bedingt dies kaum Vorteile, weil der erkrankte Arbeitnehmer einerseits nur bedingt (oder auch gar nicht) leistungsfähig ist und andererseits – zumindest bei infektiöser Krankheit – andere Mitarbeiter in Mitleidenschaft zieht. An einer erkrankten Belegschaft hat der Arbeitgeber jedoch erkennbar noch weniger Interesse als an der Arbeitsunfähigkeit eines Einzelnen. Kein Wunder also, dass ein solches Vorhaben in den vergangenen Tagen auf scharfe Kritik gestoßen ist – nicht nur aufseiten der Gewerkschaften, sondern etwa auch bei den Bundesministern Heil (Arbeit, SPD) und Lauterbach (Gesundheit, SPD) sowie bei NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU). An die wenig nachhaltige Reform der Regierung Kohl, die inhaltlich von einem solchen Vorschlag dann doch nicht so weit entfernt ist, sei an dieser Stelle nochmals erinnert.

Dann doch besser eine "Teilzeitkrankschreibung"?

Verheißungsvoller erscheint der Vorschlag einer Teilzeitkrankschreibung, wie sie etwa auch vom Präsidenten der deutschen Bundesärztekammer (BÄK) Klaus Reinhardt ins Feld geführt worden ist. Besonders vor dem Hintergrund, dass die harte Grenze zwischen Arbeitsfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit bei vielen Krankheitsbildern verschwimmt, scheint es lohnenswert, diesen Gedanken weiterzuverfolgen: So könnte im Falle von Bagatellinfekten oder am Ende einer längerfristigen Erkrankung eine Teilzeitkrankschreibung in Betracht kommen, die zumindest die Tätigkeit für einige Stunden im Homeoffice ermöglicht. Hierdurch würde potenziell infektiöser Kontakt mit anderen Arbeitnehmern weiterhin vermieden und zugleich ein stufenweiser Einstieg zurück in die volle Arbeitsfähigkeit ermöglicht werden.

Ein neuer gesetzlicher Rahmen könnte ein solches Vorhaben legitimieren. Und mehr noch: Es ist dem deutschen Rechtssystem in ähnlicher Form bereits bekannt. So ermöglicht auch das betriebliche Eingliederungsmanagement (bEM) eine schrittweise Wiedereingliederung in das Arbeitsleben. Zudem hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) im vergangenen Jahr entschieden, dass eine SARS-CoV-2-Infektion bei symptomlosem Verlauf nur dann zur Arbeitsunfähigkeit führt, "wenn es dem Arbeitnehmer in Folge einer behördlichen Absonderungsanordnung rechtlich unmöglich ist, die geschuldete Tätigkeit bei dem Arbeitgeber zu erbringen und eine Arbeitsleistung in der häuslichen Umgebung nicht in Betracht kommt" (Urt. v. 20.03.2024, Az. 5 AZR 234/23). Dies ist zwar an sich gewiss keine Legitimation für eine Teilzeitkrankschreibung, bringt aber doch zumindest zum Ausdruck, dass nicht jede pathologisch fassbare Erkrankung zugleich eine absolute Arbeitsunfähigkeit auslösen muss.

Hierauf kann man aufbauen. An erster und wichtigster Stelle muss dabei nichtsdestotrotz die Gesundheit stehen. Arbeitsunfähig darf auch in Zukunft nicht heißen: "Arbeitsunfähig unter Vorbehalt".

Der Autor Prof. Dr. Gregor Thüsing ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn. Die Co-Autoren Simon Mantsch und Alexandra Ritter sind wissenschaftliche Mitarbeiter und Doktoranden ebendort.

Zitiervorschlag

Lohnfortzahlung im Krankheitsfall: . In: Legal Tribune Online, 15.01.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56333 (abgerufen am: 12.02.2025 )

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