Der Wiederaufbau der Ukraine dürfte mehr als eine Billionen Euro kosten. Die EU will hierfür auf eingefrorenes russisches Vermögen zurückgreifen. Doch geht das rechtsstaatlich? Hierzu eine Analyse von Juliane Kokott.
"Russland muss für seine grausamen Verbrechen bezahlen. ... (Wir) werden ... dafür sorgen, dass Russland mit den eingefrorenen Geldern der Oligarchen und den Vermögenswerten seiner Zentralbank für die von ihm verursachten Verwüstungen bezahlt", twittert Kommissionspräsidentin von der Leyen.
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Die Union muss und will den kämpfenden und leidenden Ukrainern Hilfe und eine Perspektive geben. Jedoch muss sie dabei ihren eigenen Grundsätzen treu bleiben. Die Union versteht sich als Werteunion. Ihre höchsten Werte sind das Rechtsstaatsprinzip ("rule of law") und die Menschenrechte, die jedem, unabhängig von seiner Herkunft, gleichermaßen zustehen.
Das Ausmaß des russischen Angriffskrieges mitten in Europa erscheint vor dem Hintergrund der Friedensperiode nach dem 2. Weltkrieg jedoch neuartig. Daher sucht man nach neuen Möglichkeiten, Russland auch finanziell zur Verantwortung zu ziehen, ohne dadurch die Stabilität der Völkerrechtsordnung und der Handelsbeziehungen auf Dauer zu unterminieren. Dabei ist zwischen dem bloßen Einfrieren und dem definitiven Entzug von Vermögenswerten, die dann für den Wiederaufbau der Ukraine verwendet werden könnten, zu unterscheiden.
Einfrieren als Maßnahme der Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
Das Einfrieren russischer Vermögenswerte kann auf der Grundlage von Art. 215 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) erfolgen.
Konkret sieht mit Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine Art. 3 (f) der EU-Verordnung 269/2014 in der Fassung vom 14.11.2022 das Einfrieren sämtlicher Gelder und wirtschaftlicher Ressourcen vor, die im Eigentum oder Besitz von Personen sind, die von der russischen Regierung profitieren. Gleiches gilt nach Art. 3 (g) für führende Geschäftsleute oder juristische Personen, die in Wirtschaftssektoren tätig sind, die für die russische Regierung eine wesentliche Einnahmequelle darstellen. Auf dieser breiten Grundlage führt Anhang I der Richtlinie eine ständig wachsende Zahl von Personen und Einrichtungen auf.
Am 22. Dezember 2022 waren es 1.412 natürliche Personen, ganz überwiegend männlichen Geschlechts, sowie 174 Einrichtungen (Unternehmen, Stiftungen, Vereinigungen, Bewegungen).
Das Einfrieren ist eine völkerrechtliche Gegenmaßnahme (früher "Repressalie"), durch die die Ukraine und wohl auch die EU Druck auf Russland ausüben können, damit es seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg beende. Gegenmaßnahmen müssen allerdings verhältnismäßig, also zunächst überhaupt geeignet sein, Druck auf das russische Regime auszuüben.
Einziehung russischen Privatvermögens
Auch nach Beendigung des Völkerrechtsbruchs der Gegenseite könnte das Einfrieren als Gegenmaßnahme ausnahmsweise weiter gerechtfertigt bleiben, um Reparationen in einem Friedensabkommen zu erzwingen.
Einfrieren im Wege von Sanktionen und als völkerrechtliche Gegenmaßnahme muss jedoch vorübergehend sein. Es geht darum, Druck auf Russland auszuüben, seine völkerrechtswidrigen Aggressionen gegenüber der Ukraine zu beenden. Die Kommission betont selbst in ihrem Positionspapier mehrfach, dass Einfrieren kein erster Schritt zur Konfiskation sei.
Es liegt gleichwohl nicht fern, auf diese eingefrorenen Vermögenswerte für den Wiederaufbau der Ukraine zurückgreifen zu wollen. Dazu braucht die Union allerdings eine andere Ermächtigungsgrundlage als Art. 215 AEUV.
Enteignung im Wege der strafrechtlichen Einziehung?
Hier könnte die Kompetenz der Union zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens zur Mittelgenerierung für den Wiederaufbau der Ukraine fruchtbar gemacht werden. So kann die Enteignung russischer Vermögenswerte unter dem Aspekt der strafrechtlichen Einziehung zulässig sein. Nach der Ermächtigungsgrundlage des Art. 83 AEUV kann die Union Mindestvorschriften in Bereichen besonders schwerer, grenzüberschreitender Kriminalität festlegen.
Unter diese Euro-Verbrechen fallen insbesondere Terrorismus, illegaler Drogen- und Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption und organisierte Kriminalität. Zu den "Mindestvorschriften für die Festlegung von Straftaten und Strafen" kann auch die Einziehung von Instrumenten und dem Ertrag von Verbrechen gehören. Um die Zugriffsmöglichkeiten auf russische Vermögenswerte zu erweitern, wurde der Katalog des Art. 83 AEUV kürzlich durch Beschluss des Rates vom 28. November 2022 um das neue EU-Verbrechen "Verletzung oder Umgehung von Sanktionen" erweitert. Nach einem neuen Richtlinienvorschlag der EU-Kommission über die Abschöpfung und Einziehung von Vermögenswerten (COM/2022/245 final) sollen unter das Verbrechen der Sanktionsverletzung auch verbotene Rechtsberatung, Vertrauensdienste und Steuerberatung fallen.
Weitgehende Einziehungsvorstellungen der Kommission
Kommt es zur strafrechtlichen Verurteilung, sollen nach Art. 12 des Richtlinienvorschlags Tatwerkzeuge und Erträge aus der Straftat eingezogen werden. Dies ist rechtlich unproblematisch.
Weiter geht allerdings die im Richtlinienvorschlag ebenfalls vorgesehene Dritteinziehung. Danach können nach Art. 13 Abs. 1 unter anderem auch Erträge oder anderen Vermögensgegenstände enteignet werden, die von einer verdächtigten oder beschuldigten Person an Dritte übertragen wurden.
Voraussetzung hierfür ist, dass "Dritte aufgrund konkreter Tatsachen oder Umstände (…) nachweislich wussten oder hätten wissen müssen, dass mit der Übertragung oder dem Erwerb die Einziehung vermieden werden sollte". Art. 13 Abs. 2 nennt dabei als Beispiele die unentgeltliche oder deutlich unter Marktpreis erfolgende Übertragung.
Drittenteignung kommt aber jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn der Dritte gutgläubig ist (Art. 13 Abs. 3). Weit geht auch die Verpflichtung zur Einziehung von Vermögen unklarer Herkunft im Zusammenhang mit kriminellen Aktivitäten (Art. 16 des Vorschlags).
Die Richtlinie ist von dem Willen geprägt, möglichst umfassend und effektiv auf russische Vermögenswerte zugreifen zu können. Entsprechend ist – nur ein Beispiel – der einzuziehende Betrag von Euro-Verbrechen sehr weit gefasst und bezeichnet "jeden wirtschaftlichen Vorteil, der direkt oder indirekt durch eine Straftat erlangt wird, in Vermögensgegenständen aller Art besteht und eine spätere Reinvestition oder Umwandlung direkter Erträge sowie geldwerte Vorteile miteinschließt".
Bloßer Reichtum von Oligarchen ist kein Enteignungsgrund
Zumindest für den Laien ist prima facie nicht leicht erkennbar, welche Vermögenswerte nun alle der Einziehung unterliegen sollen. Allerdings sind Richtlinien grundsätzlich nur für die Mitgliedstaaten verbindlich. Bei der gebotenen Umsetzung der Richtlinienbestimmungen in nationale Strafgesetze können noch Präzisierungen erfolgen, zumal im Strafrecht ein strenger Bestimmtheitsgrundsatz gilt.
Schließlich müsste im Hinblick auf die Sanktionsverletzung der Begriff des Ertrags von Straftaten angepasst werden. Denn russische Vermögenswerte wie Yachten und Villen sind nicht ohne weiteres "Ertrag" von Verbrechen. Auch nach dem Richtlinienvorschlag müssten diese Yachten oder Villen zumindest durch reinvestierte Vermögenswerte erworben worden sein, die auf ein Euro-Verbrechen zurückzuführen sind. Oder sie müssten irgendwie Ertrag des neu zu schaffenden EU-Verbrechens der Sanktionsverletzung oder -umgehung sein, also nach der vorgeschlagenen weiten Definition des "Ertrags" einen wirtschaftlichen Vorteil darstellen, der zumindest indirekt durch eine Sanktionsumgehung erlangt wurde.
Hier ist noch manches unklar, nicht nur für Laien. Im Übrigen müssen rechtstaatliche Grundsätze wie die Gebote der Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit von Strafen, Verfahrensgrundrechte, Rechtsschutz und das Eigentumsrecht auch gegenüber russischen Geschäftsleuten und Oligarchen eingehalten werden.
In dubio pro reo muss auch für russische Geschäftsleute gelten
Jedenfalls setzt die Enteignungs-Ermächtigungsgrundlage des Art. 83 AEUV eine hinreichende Verbindung zu einem EU-Verbrechen voraus. Erweiterte Straftatbestände helfen allerdings nicht, wenn deren Erfüllung nicht beweisbar ist. Straftaten dürfen nämlich nicht vermutet werden, sondern müssen unter Einhaltung menschenrechtlicher Verfahrensgarantien nachgewiesen werden. Es besteht starker politischer Druck, die normalerweise in Strafprozessen üblichen Beweisanforderungen abzusenken, um auch tatsächlich an russische Vermögenswerte zu gelangen.
Könnten womöglich Zeitungsartikel, die russische Staatsangehörigkeit, unerklärter Reichtum oder dass ein Dritter Erträge oder andere Vermögensgegenstände besitzt, deren Wert den Erträgen entspricht, die von einer verdächtigten oder beschuldigten Person direkt oder indirekt an Dritte übertragen wurden (siehe Art. 13 des Vorschlags), zur Beweislastumkehr führen?
Im Strafrecht gelten strenge Verfahrensgarantien und Beschuldigtenrechte, namentlich der Grundsatz in dubio pro reo, die ein Rechtsstaat auch russischen Geschäftsleuten nicht vorenthalten darf.
Rechtsstaatliche Anforderungen an Einziehungen
Die geplanten Einziehungsmaßnahmen der Kommission sind auf die Kompetenz der Union zu "Mindestvorschriften zur Festlegung von Sanktionen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität" (Art. 83 Abs. 1 AEUV), gestützt. Daher könnten die strafrechtlichen Garantien auch dann gelten, wenn Einziehungen nicht auf Strafurteile gestützt sind.
Zudem kann die Vermögenseinziehung den Einzelnen ähnlich schwer wie eine Strafe treffen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat etwa entschieden, dass sogar schon die Einziehung von Land aufgrund illegaler Bautätigkeit nur unter Beachtung der Garantien, die die Menschenrechtskonvention für strafrechtliche Verurteilungen vorsieht, zulässig ist.
Angesichts dieser Hindernisse wird in der EU eine sogenannte aktive Verwaltung des eingefrorenen russischen Vermögens diskutiert. Diese soll zu Nettoerträgen führen, die für den Wiederaufbau der Ukraine verwendet werden könnten. Das gewährleistet, dass die Vermögenswerte selbst nach Aufhebung der Sanktionen völkerrechtsgemäß an Russland zurückgegeben werden könnten und wahrt laut Kommission den Grundsatz der Staatenimmunität und das Grundrecht auf Eigentum.
Staatenimmunität hindert grundsätzlich Enteignung von russischem Staatsvermögen
Weiter stellt sich die Frage, inwiefern eingefrorene Gelder der russischen Zentralbank und sonstiges Staatsvermögen enteignet werden können, um mehr Druck auf Russland auszuüben.
Dem steht allerdings der Grundsatz der Staatenimmunität im Wege. Ausgehend vom Grundsatz der souveränen Gleichheit (Art. 2 Abs. 1 Charta der Vereinten Nationen) steht es keinem Staat und keinem staatlichen Gericht zu, über einen anderen Staat zu urteilen. Das gilt für hoheitliches Handeln im Gegensatz zu privatwirtschaftlicher Tätigkeit. Bankguthaben der russischen Zentralbank, die von oder für den russischen Staat im Ausland eingerichtet wurden, dürften hoheitlichen Zwecken dienen. Daher dürfen die EU-Staaten grundsätzlich keine Hoheitsakte wie Einziehung und Enteignung gegenüber der russischen Zentralbank ergreifen.
Allerdings wird die Immunität für die Kernverbrechen des Völkerstrafrechts und Verstöße gegen ius cogens (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression) zunehmend eingeschränkt. Das betrifft aber vor allem die Verantwortlichkeit von Staatsoberhäuptern und setzt zumindest eine enge Verbindung zu einem schwersten Völkerrechtsverstoß voraus. Diese ohnehin umstrittenen Ausnahmen decken die Verwertung der Konten einer ausländischen Zentralbank nicht. Ohne Weiterentwicklung des Völkerrechts können daher die russischen Zentralbankgelder kaum enteignet werden.
Nothilfe für Ukraine als Argument für Enteignung?
Es wird darüber nachgedacht, dass die EU durch Enteignung der russischen Zentralbankgelder und deren Weitergabe an die Ukraine der Ukraine im Wege der Nothilfe ermöglicht, ihr inhärentes Recht auf Selbstverteidigung besser auszuüben. Auch ließe sich argumentieren, dass Russland durch seinen flagranten Völkerrechtsverstoß sein Recht auf Immunität verwirkt habe. Ob eine solche Weiterentwicklung der Stabilität der internationalen Beziehungen dienen würde, die das Völkerrecht gewährleisten soll, ist allerdings nicht sicher.
Der neue Präzedenzfall könnte italienische und griechische, vielleicht auch polnische Gerichte weiter zu Enteignungen der deutschen Auslandschulen und Botschaftsgelände ermutigen, wegen Verbrechen Deutschlands während des 2. Weltkrieges. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hatte Italien jedenfalls die Durchsetzung von Urteilen, die Deutschlands Staatenimmunität verletzen, verboten.
Werteunion sollte ihre Glaubwürdigkeit nicht verspielen
Die EU definiert sich als Werteunion, die vor allem für die Gewährleistung, Durchsetzung und Verbreitung rechtsstaatlicher Prinzipien und der Menschenrechte steht. Die Einhaltung dieser Werte durch einen Mitgliedstaat ist Voraussetzung für den Genuss aller seiner Rechte; Zahlungen an Mitgliedstaaten können bei Rechtsstaatsmängeln zurückbehalten werden. Denn die Werte bilden nach der Rechtsprechung des EuGH die Identität der Union und stehen für ihre Glaubwürdigkeit. Diesen hohen Maßstäben müssen also auch die Maßnahmen der Union genügen.
Das Einfrieren von bestimmten russischen Vermögenswerten ist als völkerrechtliche Gegenmaßnahme gerechtfertigt, um Druck auf Russland auszuüben. Gemessen an den EU-eigenen Maßstäben und im Hinblick auf die Stabilität der Völkerrechtsordnung ist die avisierte Enteignung russischer Vermögenswerte dagegen eine juristische Herausforderung.
Zu bedenken ist auch, dass sich Staaten wie Russland und China zukünftig gegenüber europäischen Staaten und deren Bürgern auf die Präzedenzfälle berufen könnten, die die Union jetzt möglicherweise schafft. Das gilt für eventuelle Einschränkungen der Staatenimmunität, des Investitionsschutzes und des Eigentumsrechts.
Prof. Dr. Juliane Kokott ist Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof und Titularprofessorin an der Universität St. Gallen.
Konten, Yachten, Villen, Zentralbankgelder: . In: Legal Tribune Online, 06.02.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50982 (abgerufen am: 07.10.2024 )
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