Öffentliche Bibliotheken im digitalen Zeitalter: E-Len­ding, ein Fall für den Gesetz­geber

Gastbeitrag von Prof. Dr. Dieter Frey, LL.M. (Brügge)

15.10.2018

Die Ausleihe von haptischen Büchern und E-Books durch öffentliche Bibliotheken wird rechtlich ungleich behandelt. Damit diese ihren Kultur- und Bildungsauftrag wahrnehmen können, plädiert Dieter Frey für ein Tätigwerden des Gesetzgebers.

Über 3.000 Bibliotheken im deutschsprachigen Raum bieten heute als öffentlich finanzierte Kultur- und Bildungseinrichtungen die elektronische Ausleihe von E-Books als Ergänzung zu ihrem analogen Angebot an. Die Entscheidung, ob und zu welchen Konditionen öffentliche Bibliotheken ihren Nutzern E-Books zur Verfügung stellen können, liegt jedoch bei den Verlagen. Die elektronische Ausleihe von E-Books, das sog. E-Lending, beruht auf Lizenzverträgen, während haptische Bücher ohne Einschränkung im Buchhandel gekauft und verliehen werden können.

Anders als physische Bücher werden E-Books nach deutschem Rechtsverständnis nicht käuflich erworben. Sie werden vielmehr durch die Verlage aufgrund urheberrechtlicher Rechtseinräumungen zur Nutzung überlassen. Diese Lizenzverträge werden nicht von den Bibliotheken selbst, sondern von privatwirtschaftlichen Aggregatoren verhandelt. Hierzu gehört z.B. das amerikanische Unternehmen OverDrive, Inc., über das vornehmlich englischsprachige Inhalte bezogen werden können.

In Deutschland ist das Angebot der divibib GmbH, die den Bibliotheken zudem die technische Ausleihplattform "Onleihe" bereitstellt, am weitesten verbreitet. Die genannten Unternehmen schließen Verträge mit einer Vielzahl von Verlagen über deren digitale Inhalte, versehen diese mit einem digitalen Rechtemanagementsystem (DRM) zum Urheberschutz und stellen sie im Auftrag der Bibliotheken dann über Online-Plattformen den registrierten Nutzern der Bibliotheken zur Verfügung.

Ausleihe physischer Bücher urheberrechtlich privilegiert

Die Ausleihe digitaler Inhalte ist dabei regelmäßig dem Verleih physischer Medien nachgebildet. Wie beim physischen Buch kann auch ein E-Book typischerweise nur einmal digital ausgeliehen werden. Wenn nur eine Lizenz erworben wurde, steht das betreffende E-Book während einer aktiven "Leihe" weiteren Nutzern nicht zur Verfügung (sog. serielles Modell). Dadurch wird die Verfügbarkeit digitaler Medien in den Bibliotheken stark begrenzt.

Die traditionelle Ausleihe physischer Bücher ist demgegenüber urheberrechtlich privilegiert. Bibliotheken können alle am Markt verfügbaren Werke im Buchhandel frei erwerben und entscheiden, welche sie für die Ausleihe bereitstellen. Der Kauf zum gebundenen Buchpreis wird aus den Medienbudgets der Bibliotheken bestritten. Daneben ist pauschal nur die sog. Bibliothekstantieme zu entrichten, die aber anteilig von Bund und Ländern bereitgestellt wird.

Dieses System kommt beim E-Lending nicht zum Tragen. Die einschlägigen gesetzlichen Be­stimmungen (§§ 27 Abs. 2 i.V.m. 17 Abs. 2 Urhebergesetz (UrhG)) beziehen sich auf physische Werke und sind nach h. M. nicht auf digitale Werke anwendbar. So enthält § 17 Abs. 2 UrhG den sog. Erschöpfungsgrundsatz, wonach das Urheberrecht der Weiterverbreitung eines Werkes nicht mehr entgegengehalten werden kann, wenn das Werk zuvor mit Zustimmung des Berechtigten im Wege der Veräußerung in Verkehr gebracht worden ist. Wird also ein physisches Buch an eine Bibliothek verkauft, erschöpft sich das dem Rechtsinhaber zustehende Recht. Die Bibliotheken haben lediglich eine angemessene Vergütung an den Urheber, die o.g. Bibliothekstantieme zu entrichten, die i.ü. verwertungsgesellschaftspflichtig ist (§ 27 Abs.3 UrhG).

Verlage entscheiden über das Ob und Wie

Diese Ungleichbehandlung hat zur Folge, dass die Entscheidung, ob und zu welchen Bedingungen ein E-Book Bibliotheksnutzern zur Verfügung gestellt werden kann, ausschließlich bei den Verlagen liegt. Dies kann zu schwierigen und langwierigen Vertragsverhandlungen führen oder Bücher können dem E-Lending – anders als in der analogen Welt – gänzlich vorenthalten werden. Bibliotheken beklagen überhöhte Preise: Für eine serielle Lizenz eines E-Books wird oft das bis zu 1,75-fache des Endkundenpreises verlangt.

Es ist zudem gängige Praxis, dass serielle Lizenzen auf zwei bis vier Jahre begrenzt werden, wodurch ihre zeitliche Verfügbarkeit in Bibliotheken im Vergleich zu physischen Büchern verkürzt wird. Die freie Lizenzierungsmöglichkeit hat ebenfalls zu sog. Kontingentmodellen geführt oder die Grundlage für das sog. Windowing geschaffen. Ersteres bedeutet, dass Lizenzen nachgekauft werden müssen, wenn eine gewisse Anzahl digitaler Ausleihen erreicht ist. Beim Windowing werden oft Bestseller erst mit einem Versatz von bis zu neun Monaten nach Erscheinen zur Verfügung gestellt.

Gegenwärtig wird diskutiert, ob und wie der Bundesgesetzgeber das E-Lending im Urhebergesetz regeln soll. Im Koalitionsvertrag hat man sich darauf geeinigt, "dass Bibliotheksnutzern unter Wahrung der Vertragsfreiheit ein noch besserer Zugang zum Repertoire von E-Books ermöglicht" werden soll. Hintergrund der Diskussion ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) von 2016 (Urt.v. 10.11.2016, Az. C-174/15).

Der EuGH hat ein digitales Verleihrecht unter bestimmten Bedingungen anerkannt und so die Rolle der Bibliotheken für Kultur und Bildung bestätigt. Gleichwohl hat er offengelassen, wie genau E-Lending dem Verleih haptischer Werke rechtlich angeglichen werden kann. Auch die grundsätzliche Frage, ob eine digitale Erschöpfung des Urheberrechts an E-Books im Rahmen geltenden Unionsrechts eintreten kann, ließ der Gerichtshof unbeantwortet. Letzteres ist Gegenstand eines weiteren Vorabentscheidungsersuchens im Fall Tom Kabinet (Az. C-263/18), welches ebenfalls aus den Niederlanden anhängig ist. Eine gerichtliche Klärung ist aber in naher Zukunft nicht zu erwarten.

Rechts- und Planungssicherheit erforderlich

Gesetzgeberisches Handeln ist demnach erforderlich. Die Herausforderung des Gesetzgebers ist es dabei, eine möglichst flexible, zukunftstaugliche gesetzliche Regelung zu schaffen, die pragmatisch bleibt und die widerstreitenden Interessen der Beteiligten zum Ausgleich bringt. Seit der Anhörung zum UrhWissG im März 2017 stehen unterschiedliche Überlegungen im Raum.

Diskutiert wird z.B. die gesetzliche Verankerung der digitalen Erschöpfung. Rechtliche wie wirtschaftliche Einwände lassen sich einem solchen Ansatz entgegenhalten: Nach Unionsrecht ist der Erschöpfungsgrundsatz zwar im Hinblick auf das Verbreitungsrecht von Computersoftware anerkannt, aber hierbei handelt es sich um eine Sonderkonstellation. Es ist zu bezweifeln, dass der Bundesgesetzgeber diese auf andere digitale Werke überträgt, ohne dabei Gefahr zu laufen, gegen geltendes Unionsrecht, insbesondere gegen die Urheberrechtsrichtlinie und die Vermiet- und Verleihrichtlinie, zu verstoßen. Die generelle Erschöpfung des Urheberrechts im Hinblick auf digitale Inhalte hätte auch erheblich wirtschaftliche Folgen, da die heutige Lizenzpraxis in vielen Bereichen obsolet würde und die darauf aufbauenden Geschäftsmodelle in Frage stünden.

Die Einführung einer speziellen gesetzlichen Schrankenregelung zugunsten der öffentlichen Bibliotheken könnte in engen Grenzen Lizenzvereinbarungen entbehrlich machen. Eine solche Option müsste aber auf einen engen Anwendungsbereich beschränkt sein und detailliert gesetzlich geregelt werden. Ob damit den sich schnell verändernden Konstellationen einer digitalen Welt begegnet werden kann (z.B. extended eBooks, Clouddienste), erscheint fraglich. Ungeklärt wäre zudem auch das Verhältnis zu bestehenden Lizenzvereinbarungen.

Kompromiss zwischen Bibliotheken und Verlagen gesucht

Dieser, vom Deutschen Bibliotheksverband favorisierte Ansatz stößt auf erheblichen Widerstand seitens der Verlage. Die Verlage fordern ihrerseits die Einführung nutzungsabhängiger Vergütungen durch die Bibliotheken, was diese jedoch vor unlösbare finanzielle Probleme stellen und sie ihrer finanziellen Planungssicherheit berauben würde.

Ein tragfähiger Kompromiss muss es den Bibliotheken ermöglichen, ihren kulturellen Auftrag mit beschränkten Medienetats auch im digitalen Umfeld zu erfüllen und den Urhebern und Verlagen eine angemessene Vergütung sichern. Dieser könnte darin bestehen, das etablierte Lizenzsystem beizubehalten, das den unterschiedlichen Medientypen und Ausleihkonstellationen der Bibliotheken gerecht wird. Die geltende Praxis müsste aber um bestimmte, vom Gesetzgeber festzulegende Regelungen ergänzt werden.

Sinnvoll wäre die Erweiterung des bestehenden Vergütungsanspruchs der Urheber, indem die Bibliothekstantieme auf das E-Lending erstreckt wird. Urhebern stünde damit zusätzlich (zu ihrer Vergütung aus dem Autorenvertrag) ein Ausgleich aus der Bibliothekstantieme zur Verfügung. Bund und Länder müssten dazu zusätzliche Mittel aufbringen. Auch eine finanzielle Beteiligung der Verlage an der Bibliothekstantieme könnte vorgesehen werden.

Dem müsste eine Verpflichtung der Verlage gegenübergestellt werden, eBooks zu angemessenen Bedingungen zu lizenzieren, um den Problemen überhöhter Vergütungsforderungen, dem Windowing oder der Weigerung, eBooks für das E-Lending zu lizenzieren, entgegenzutreten. Mit der Etablierung eines Schiedsverfahrens könnte etwaigen Streitigkeiten begegnet werden. Ein solcher Ansatz würde auch dem zitierten Satz des Koalitionsvertrags entsprechen.

Der Gesetzgeber bleibt jedenfalls aufgerufen, praxistaugliche Regelungen zu entwickeln und im Rahmen der aktuellen Reformbemühungen zur Anpassung des Urheberrechts an die Digitalisierung dem E-lending angemessen Rechnung zu tragen.

Der Autor Rechtsanwalt Prof. Dr. Dieter Frey, LL.M. (Brügge), Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht, ist Partner der Kanzlei FREY Rechtsanwälte Partnerschaft in Köln. Er berät u.a. im Bereich des E-Lending. Er ist Honorarprofessor für Medien- und Sportrecht an der University of Applied Science Europe sowie Vorstand des kölner forum medienrecht e.V..


Zitiervorschlag

Öffentliche Bibliotheken im digitalen Zeitalter: E-Lending, ein Fall für den Gesetzgeber . In: Legal Tribune Online, 15.10.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31509/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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