Vor anderthalb Jahren wurde Jörg Kachelmann vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen. Nun verklagt er seine ehemalige Lebensgefährtin vor dem LG Frankfurt auf Schadensersatz. Hat sie gelogen, wenn der Wettermoderator freigesprochen wurde? Dass die Frankfurter Richter zu einem völlig anderen Ergebnis kommen können, erklären Christian Wolf und Hanna Schmitz.
Als Jörg Kachelmann im Frühjahr letzten Jahres in Mannheim freigesprochen wurde, betonten die Richter, dass ihre Entscheidung auf dem Grundsatz "in dubio pro reo" beruhe. Weder seien sie von der Unschuld des ehemaligen Wettermoderators überzeugt, noch stehe die Unwahrheit der Aussage seiner Ex-Geliebten Claudia D. fest.
Nun wird das Verfahren vor dem Landgericht (LG) Frankfurt neu aufgerollt, Kachelmann verlangt von der Radiomoderatorin Gutachterkosten aus dem Strafverfahren als Schadensersatz. Wieder geht es um die Frage: Hat es eine Vergewaltigung gegeben oder nicht? Diesmal beurteilt sich anhand dessen, ob Claudia D. in dem Strafverfahren vorsätzlich falsch ausgesagt hat. Gelangt das Gericht zu dieser Überzeugung, wird Kachelmann auch in dem Schadensersatzprozess obsiegen.
Aus Gründen der Prozessökonomie scheint es spontan plausibel, die Überzeugungen der Strafrichter des LG Mannheim auch in dem Schadensersatzprozess heran zuzuziehen. Schließlich waren sie anhand der damals ermittelten Tatsachen nicht davon überzeugt, dass die ehemalige Lebensgefährtin des Schweizers die Unwahrheit gesagt hatte.
Von der formellen und der materiellen Wahrheit
Eine Übertragung der im Strafverfahren erhobenen Tatsachen auf das zivilgerichtliche Verfahren ist aber nicht ohne weiteres möglich.
Zwar verfolgen sowohl Straf- als auch Zivilrichter das Ziel, ein Urteil auf der Basis der wahren Tatsachengrundlage zu erlassen. In dieser Gemeinsamkeit liegt jedoch zugleich einer der wesentlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten. Denn der Wahrheitsbegriff des Strafprozesses ist mit dem Wahrheitsprinzip des Zivilverfahrens nicht identisch.
Im Strafprozess gilt das Prinzip der materiellen Wahrheit. Nach dem dort geltenden Ermittlungsgrundsatz ist das Gericht dazu verpflichtet, den relevanten Sachverhalt vollumfänglich selbst zu ermitteln.
Im Zivilprozess bilden hingegen die Verfahrensgrundsätze der Dispositions- und Verhandlungsmaxime das Fundament für den dort vorherrschenden formellen Wahrheitsbegriff. Den Tatsachenstoff, aufgrund dessen der Sachverhalt ermittelt wird, bringen ausschließlich Parteien bei. Auch die Wahrheit, welche der Richter seiner Entscheidung zugrunde legt, kann er also ausschließlich dem Vortrag der Prozessbeteiligten entnehmen.
Eine bessere Wahrheit gibt es nicht
Die Ermittlung von Amts wegen im Strafprozess lässt nicht etwa darauf schließen, dass der materielle Wahrheitsbegriff verlässlicher wäre oder das für sich in Anspruch nähme. Er kann keineswegs auf den Zivilprozess übertragen werden.
Im Gegenteil: Durch den Egoismus der Parteien im Zivilprozess, der vom Interesse daran getrieben ist, stets die eigenen Interessen durchzusetzen, korrigieren sich die Aussagen der Parteien oft gegenseitig. So kann der formelle Wahrheitsbegriff häufig sogar besser die objektive Tatsachenlage beschreiben, als dies durch eine staatliche Ermittlung je möglich wäre.
Diese Relevanz des Parteivortrags für die Wahrheitsfindung im Zivilverfahren spiegelt sich auch an anderer Stelle wider. So gilt vor dem Zivilrichter uneingeschränkt die Wahrheitspflicht, während dem Angeklagten im Strafverfahren nicht nur das Schweigerecht zu Gute kommt.
2/2: Beweiserhebung: Nemo tenetur vs. Wahrheitspflicht
Ihm gewährt der Grundsatz, dass sich niemand selbst belasten muss (nemo tenetur se ipsum accusare) im Strafverfahren nicht nur ein Schweigerecht im Hinblick auf ihn möglicherweise belastende Tatsachen. Vielmehr räumt diese Maxime des Strafverfahrens dem Angeklagten dadurch sogar unmittelbar ein Recht zur Lüge ein.
Im Zivilprozess sind die Parteien dagegen gemäß § 138 Zivilprozessordnung (ZPO) bedingungslos zur Wahrheit und Vollständigkeit verpflichtet. Es erklärt sich von selbst, dass aufgrund dieser umfassenden Erklärungspflicht die Ergebnisse der Straf- und Zivilrichter bei der Beweiserhebung auseinanderfallen können.
Schließlich ergeben sich nicht nur bei der Ermittlung der entscheidungserheblichen Tatsachen wesentliche Ungleichmäßigkeiten. Auch hinsichtlich der Bewertung des erhobenen Beweises sind die Richter an verschiedene Grundsätze gebunden.
Beweisbewertung: In dubio pro reo und Beweislast
Vor den Zivilgerichten muss jede Partei die Tatsachen beweisen, die für sie günstig sind. Das sind auf Seiten des Anspruchstellers grundsätzlich alle anspruchsbegründenden Tatsachen. Der Anspruchsgegner muss die Fakten beweisen, welche die Forderung vernichten oder hindern können.
Das Strafrecht ist dagegen geprägt von dem Grundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" (in dubio pro reo). Freilich handelt es sich dabei nicht um eine Beweis-, sondern vielmehr um eine Entscheidungsregel.
So kommt die Formel grundsätzlich erst dann zum Einsatz, wenn nach abgeschlossener Beweiswürdigung noch Zweifel an einer Tatsache bestehen, die für die konkrete Rechtsfolge entscheidungserheblich ist In dubio pro reo ist nicht nur auf den Schuldspruch anzuwenden. Vielmehr hat das Gericht auch bei den einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen im Zweifel die für den Angeklagten günstigen Umstände anzunehmen.
Von Mannheim nach Frankfurt: Akten ja, Überzeugung nein
Ein Freispruch im Strafverfahren kann also nicht ohne weiteres auch einen Schadensersatzanspruch im Zivilprozess begründen. Allein der Freispruch belegt noch lange nicht, dass das Gericht von den vorgetragenen Tatsachen überzeugt war. Im Gegenteil: Bei Anwendung des in dubio pro reo-Grundsatzes ergeht er gerade auf Grund von Zweifeln.
Der Freispruch von Jörg Kachelmann durch das LG Mannheim belegt also noch nicht die Unwahrheit der Zeugenaussage von Claudia D. Vielmehr erging das Urteil zugunsten des Wettermoderators gerade, weil die vom Wahrheitsgehalt ihrer Aussage nicht vollständig überzeugt waren. Im zivilrechtlichen Prozess ist die Klärung der Frage, ob Claudia D. falsch ausgesagt hat, jedoch essentiell für die Entscheidung über den Schadensersatzanspruch. Die Beweislast für diese Tatsache liegt bei Jörg Kachelmann.
Es ist nun Aufgabe des ehemaligen Wettermoderators, das Gericht davon zu überzeugen, dass Claudia D. vorsätzlich falsch ausgesagt hat. Die Frankfurter Richter müssen hierzu zwar die Akten des Mannheimer Strafverfahrens beiziehen. Ihre eigene richterliche Überzeugung aber müssen sie sich völlig selbständig erarbeiten.
Der Autor Christian Wolf ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsches- Europäisches und Internationales Zivilprozessrecht an der Juristischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover, die Autorin Hanna Schmitz ist Mitarbeiterin am dortigen Lehrstuhl.
Prof. Dr. Christian Wolf, Hanna Schmitz, Eine Frage der Wahrheit: Freispruch und Schadensersatz im Fall Kachelmann . In: Legal Tribune Online, 19.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7574/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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