Kruzifixe in italienischen Schulen verstoßen laut EGMR nicht gegen die Religionsfreiheit der Schüler. Im Fall des Schweizer Verbots zum Kopftuch muslimischer Lehrerinnen war das Gericht noch von genau einer solchen Beinträchtigung ausgegangen. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Und welche Folgen hat das Urteil für Deutschland? Ein Kommentar von Przemyslaw N. Roguski.
Wahrscheinlich hat die "kleine" Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht geahnt, welche Kontroverse sie auslösen würde, als sie am 3. November 2009 mit sieben zu null Stimmen entschied, dass das Aufhängen von Kruzifixen in Schulklassen gegen die Religionsfreiheit - genauer: das Recht der Eltern auf Achtung ihrer religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen bei der Erziehung ihrer Kinder in Verbindung mit der Religionsfreiheit - verstößt.
Das Urteil entfachte einen Sturm der Entrüstung in Italien und anderen Ländern und befeuerte erneut die Debatte über den Platz religiöser Symbole in einem modernen, pluralistischen und konfessionell neutralen Staat.
Auf Antrag Italiens befasste sich nun die Große Kammer des EGMR mit der Kruzifix-Frage und entschied vergangenen Freitag mit fünfzehn zu zwei Stimmen, dass Kruzifixe doch in italienischen Klassenzimmern hängen dürfen.
Staaten haben in Religionsfragen weiten Beurteilungsspielraum
Dieses Urteil der Großen Kammer mag manche auf den ersten Blick verwundern, hat der EGMR doch vor nicht allzu langer Zeit noch scheinbar deutlich gegen religiöse Symbole in Bildungseinrichtungen Position bezogen. Im Fall Dahlab gegen die Schweiz war die Klage einer Lehrerin, der verboten worden war, in einem Kopftuch zu unterrichten wegen "offensichtlicher" Unbegründetheit gescheitert. Damals wiesen die Straßburger Richter darauf hin, dass das Kopftuch ein "starkes religiöses Symbol" ist, das einen indoktrinierenden Einfluss auf die Kinder haben kann.
Auch im Fall Leyla Sahin gegen die Türkei stellte sich der EGMR auf die Seite des Staates, der das Tragen von Kopftüchern an staatlichen Universitäten verboten hatte. Wie sind diese scheinbaren Gegensätze also zu erklären?
Die Antwort findet sich in dem Beurteilungsspielraum, den das Gericht den Staaten überlässt. Laut EGMR verbleibt bei kontroversen Fragen, zu denen einheitliche europäische Standards fehlen den Staaten bei der Ausgestaltung des Schutzes der Konventionsrechte ein Einschätzungsspielraum. Zu solchen umstrittenen Fragen zählt neben zum Besipiel der Sterbehilfe oder der Abtreibung auch das Tragen religiöser Symbole in Schulen.
Die Straßburger Richter argumentieren, dass es in dieser Frage keinen europaweiten Konsens gibt, die von den einzelnen Staaten gewählten Regelungen vielmehr untereinander stark divergieren und teilweise gegensätzlich sind. Die Konvention gebe deshalb dem Staat keine eindeutige Lösung der Frage vor. Vielmehr dürfe das jeweilige Land selbst entscheiden, wie es das Konventionsrecht ausgestalten möchte. Dabei müssten allerdings die wesentlichen Garantien dieses Rechts unangetastet und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben.
Säkularismus kann in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein
In den Fällen Dahlab gegen Schweiz und Leyla Sahin gegen Türkei wählten die Staaten eine Lösung, die das Tragen religiöser Symbole in Bildungseinrichtungen verbietet, sei es durch Lehrerinnen oder Studentinnen. Sie begründeten dies mit den aus ihren Verfassungen abgeleiteten Prinzipien des Säkularismus und der religiösen Neutralitätspflicht des Staates.
Ähnlich sieht es für Deutschland das Bundesverfassungsgericht, wenn es in seinem Kruzifix-Urteil sagt: "Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, kann die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selber in Glaubensfragen Neutralität bewahrt".
In Situationen, die einen schonenden Ausgleich erfordern zwischen dem aus der positiven Religionsfreiheit begründeten Recht auf das Tragen religiöser Symbole und dem aus der negativen Religionsfreiheit stammenden Recht, keine bestimmte religiöse Überzeugung aufgedrängt zu bekommen, kann der Säkularismus einen Lösungsweg darstellen. Laut EGMR steht der Säkularismus des Staates mit den eine demokratische Gesellschaft auszeichnenden Werten des Pluralismus und der Toleranz im Einklang.
Urteil korrigiert falsche Auslegung der Menschenrechtskonvention
Der EGMR macht in seiner aktuellen Kruzifix-Entscheidung aber deutlich, dass der Säkularismus nicht die einzige Möglichkeit darstellt, widerstreitende Interessen auszugleichen. Auch eine weniger säkulare Haltung, die die Symbole der dominanten Religion aus "Tradition" zulässt und somit jedenfalls nicht die strikte Neutralität des Staates wahrt, verstößt nicht automatisch gegen das Gebot des Pluralismus und der Toleranz. Dies gilt aber nur sofern und soweit der Staat nicht versucht, für diese Religion zu indoktrinieren.
Der Entscheidung der Straßburger Richter verdient grundsätzlich Zustimmung: Sie korrigiert ein Urteil der Kammer, das die Natur und ein grundsätzliches Prinzip der Konvention verkannt hatte. Diese verpflichtet alle Mitgliedstaaten auf einen gemeinsamen menschenrechtlichen Standard. Die Konventionsrechte spiegeln dabei die Werte der Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten wider. Es ist daher richtig und notwendig, dass der EGMR dort einheitliche Standards durchsetzt, wo ein Konsens über den Inhalt eines Rechts besteht, auch wenn es ein einzelner Staat anders sehen mag.
Es ist aber auch richtig, dass die Große Kammer dort den Mitgliedstaaten einen Einschätzungsspielraum belässt, wo sich kein einheitlicher Standard herausbilden konnte. In Fragen der Religion liegen die Staaten weit auseinander und der strikte Säkularismus, der von einigen Staaten vertreten wird, wird von anderen wiederum nicht geteilt. Säkularismus ist daher, wie Richter Bonello in seinem Sondervotum sagte, kein zwingender Bestandteil der Religionsfreiheit des Art. 9 Europäische Menschenrechtskonvention, sondern eine mögliche Ausgestaltung.
Kein abschließendes Votum zum Umgang mit religiösen Symbolen in Bildungseinrichtungen
Dennoch lässt das Urteil des EGMR zu wünschen übrig. Mangels effektiver Mechanismen zur Durchsetzung seiner Urteile, muss sich der Gerichtshof durch die Kraft der Argumente Gehör verschaffen. Das Urteil der "kleinen" Kammer war auch deswegen so umstritten, weil es sich in einer sehr kontroversen Frage nur ungenügend mit den Problemen auseinandersetzt hatte. Leider ist die Entscheidung der Großen Kammer in dieser Hinsicht kein großer Fortschritt.
So bezeichnet die Große Kammer das Kruzifix als "im Wesentlichen passives Symbol, ohne jedoch auszuführen, welche rechtliche Wirkung die bis dahin in der Rechtsprechung des EGMR nicht vorhandene Unterscheidung zwischen passiven und aktiven Symbolen hätte. Welche Symbole sind dann, im Gegensatz zum Kruzifix, aktiv? Beispielsweise das Kopftuch? Wäre ein von einer Lehrerin auf der Brust getragenes Kreuz aktiv oder passiv? Diese Fragen bleiben unbeantwortet.
Die geäußerten Zweifel werden auch dadurch bestärkt, dass der EGMR das "passive" Kruzifix, ähnlich wie im Fall Dahlab das Kopftuch, als "starkes religiöses Symbol“ einschätzt. Dort hatte das Gericht geäußert, dass ein Kopftuch als religiöses Symbol bei kleinen Kindern eine indoktrinierende Wirkung haben könnte.
Ähnliche Bedenken äußerte die "kleine" Kammer auch im aktuellen Fall: Insbesondere bei Kindern, die auf Grund ihres Alters noch sehr beeinflussbar sind, müsse der Staat mit der Bevorzugung bestimmter religiöser Symbole vorsichtig sein. Eine gewisse Ähnlichkeit ist beiden Fällen nicht abzusprechen. Worin der Unterschied zwischen den gleichermaßen "starken religiöse Symbolen" "Kruzifix" und "Kopftuch" liegt, der eine ungleiche Behandlung rechtfertigt, macht die Große Kammer jedoch nicht deutlich. Über den bloßen Hinweis auf eine fehlende Vergleichbarkeit der Sachverhalte hinaus wäre hier eine weitergehende sachliche Auseinandersetzung wünschenswert gewesen.
Die Frage, wie mit religiösen Symbolen in Bildungseinrichtungen umzugehen ist, ist mit dem Urteil des EGMR nicht abschließend beantwortet. Vieles hängt weiterhin vom Einzelfall ab. Befürwortern wie Gegnern von Kruzifixen in der Schule liefert die Entscheidung Stoff für weitere Diskussionen. Der Gerichtshof machte dabei aber das einzig Richtige: Er versuchte nicht, dort Einheit zu schaffen, wo kein Konsens besteht, sondern lässt in einer kulturell wichtigen und umstrittenen Frage den Staat entscheiden.
Der Autor Przemyslaw Nick Roguski, Mag. Iur. ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht, Internationales Wirtschaftsrecht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
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Przemyslaw Roguski, EGMR zu religiösen Symbolen in Klassenzimmern: . In: Legal Tribune Online, 21.03.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2825 (abgerufen am: 16.10.2024 )
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