Die Abschiebung eines Asylbewerbers nach Griechenland stellt laut EGMR einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention dar. Damit übt Straßburg scharfe Kritik am europäischen Asylsystem. Warum das Urteil zugleich eine Chance für eine gerechtere Lastenverteilung und einen menschenrechtskonformen Umgang mit Asylsuchenden in der EU ist, erläutert Julia Schieber.
Der Beschwerdeführer hatte im Februar 2009 in Belgien Asyl beantragt. Er gab an, 2008 aus Afghanistan geflohen zu sein, nachdem die Taliban versucht hatten, ihn wegen seiner Tätigkeit als Übersetzer für ausländische Truppen zu ermorden. Belgien überstellte ihn jedoch zur Durchführung des Asylverfahrens nach Griechenland. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied nun, dass die Abschiebung eines Asylbewerbers nach Griechenland gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstößt (Urt. v. 21.1.2011, Az. 30696/09).
Nach europäischem Recht findet auf solche Sachverhalte die sogenannte Dublin-II-Verordnung Anwendung. Danach ist grundsätzlich der EU-Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig, über den der Asylbewerber in die Europäische Union eingereist ist. Wird der Antrag in einem anderen EU-Staat gestellt, kann dieser den Betreffenden dorthin zurückschieben oder von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen und so das Verfahren an sich ziehen.
Die Dublin-II-Verordnung ist seit ihrer Verabschiedung heftig umstritten. Sie führt dazu, dass die Staaten an den Außengrenzen der EU überproportional belastet werden und – so im Fall Griechenlands – den Strom an Asylsuchenden nicht mehr bewältigen können. Staaten, die wie Deutschland im Inneren der EU gelegen sind, hat das Dublin-System hingegen einen starken Rückgang der Asylbewerberzahlen beschert.
Situation in Griechenland als "unmenschliche Behandlung" zu werten
Menschenrechtsorganisationen kritisieren schon seit Jahren die zahlreichen Defizite des griechischen Asylsystems. Nach eigenen Angaben wurde der Beschwerdeführer nach seiner Ankunft in Griechenland zunächst ohne ausreichendes Essen in eine überfüllte Zelle gesperrt. Später lebte er für mehrere Monate ohne Unterhalt auf der Straße.
Zwar sieht das europäische Recht Mindeststandards für die Behandlung von Asylbewerbern und das Asylverfahren vor, die auch von Griechenland zwingend zu beachten sind. Allerdings zeigte sich Griechenland nach einhelligen Berichten des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) sowie zahlreicher Menschenrechtsorganisationen bisher nicht in der Lage, diese Standards einzuhalten.
Der EGMR entschied nun, dass die Bedingungen, unter denen der Beschwerdeführer in Griechenland in Gewahrsam genommen wurde sowie die Lebensbedingungen, denen er dort ausgesetzt war, eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Artikel 3 EMRK darstellen.
Menschenrechtliche Paukenschlag: dreifacher Konventionsverstoß durch Belgien
Mit der Verurteilung Griechenlands lief sich der Gerichtshof indes erst warm, bevor er zum menschenrechtlichen Paukenschlag ausholte: Durch die Abschiebung des afghanischen Asylbewerbers nach Griechenland verstieß Belgien gegen das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nach Artikel 3 EMRK. Indem Belgien dem Betroffenen keinen effektiven einstweiligen Rechtsschutz gegen die Abschiebung gewährt hatte, verletzte das Königreich zudem seine Verpflichtungen nach Artikel 13 EMRK, dem Recht auf wirksame Beschwerde.
Der EGMR betonte, dass ein EU-Mitgliedstaat zwar grundsätzlich von der Vermutung ausgehen darf, dass die anderen EU-Staaten ihre Verpflichtungen aus der EMRK erfüllen. Allerdings konnte sich Belgien im konkreten Fall nicht auf diese Vermutung zurückziehen: Man hätte erkennen müssen dass es in Griechenland nicht zu der Durchführung eines wirksamen Asylverfahrens kommen und der Asylbewerber dort unmenschlichen Haft- und Lebensbedingungen ausgesetzt würde.
Mit ihrer Entscheidung sprechen die Straßburger Richter ein Machtwort. Die Abschiebepraxis variierte in der Vergangenheit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union: Während Schweden und Großbritannien die Abschiebung nach Griechenland schon seit längerem ausgesetzt haben, sah Österreich bislang nur bei besonders schutzbedürftigen Personen von einer Abschiebung ab. Für Deutschland hat die Entscheidung des EGMR aktuell keine unmittelbar praktische Relevanz. Drei Tage vor Verkündung des Urteils gab Bundesinnenminister Thomas de Maizière einen einjährigen Abschiebestopp nach Griechenland bekannt.
Anstoß zur Umgestaltung des Dublin-Systems?
Stürzt das Urteil das europäische Asylsystem à la Dublin nun in die Krise? Ja und nein. Dem Urteil des EGMR kann im Wege der menschenrechtskonformen Auslegung begegnet werden. Fallen die Standards in einem EU-Mitgliedstaat unter die Schwelle des Artikel 3 EMRK, müssen die anderen Mitgliedstaaten von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen und von einer Abschiebung in dieses Land absehen. Allerdings wird hierdurch die Ausnahme zur Regel gemacht. Der Systemfehler der ungerechten Lastenverteilung wird offenbar.
Abhilfe könnte der Vorschlag der EU-Kommission zur Änderung der Dublin-II-Verordnung schaffen. Danach soll ein Mechanismus aufgenommen werden, nach dem die Überstellung in einen Mitgliedstaat der EU zeitweise generell ausgesetzt werden kann. Von dieser Klausel kann in Fällen Gebrauch gemacht werden, in denen ein EU-Staat aufgrund eines zu großen Zustroms an Asylbewerbern überlastet ist oder in denen das Schutzniveau in einem Mitgliedstaat nicht den EU-Standards entspricht.
Der EGMR hat mit seinem Urteil der zuletzt sehr zähen politischen Debatte über eine gerechtere Lastenverteilung und einen menschenrechtkonformen Umgang mit Asylbewerbern in der EU einen neuen Anstoß gegeben. Bis 2012 will die EU die Defizite des Dublin-Systems beseitigen.
Julia Schieber ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungszentrum für internationales europäisches Ausländer- und Asylrecht an der Universität Konstanz.
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EGMR urteilt über Abschiebung: . In: Legal Tribune Online, 24.01.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2396 (abgerufen am: 03.12.2024 )
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