EGMR zu Nutzerkommentaren: Wer haftet für den Troll?

von Dr. Markus Sehl

23.10.2013

Nach dem letzten Satz ist für sie längst nicht alles gesagt. Kommentarfelder unter Online-Artikeln sind für anonyme "Trolle" ein Tobeplatz. Sie provozieren, beleidigen und bedrohen. Aber wer haftet, wenn Gesetze überschritten werden? Estnische Gerichte hatten das Nachrichtenportal zur Verantwortung gezogen – trotz Sicherheitsvorkehrungen. Für den EGMR kein Problem. Was bedeutet das für deutsche Seiten?

Wer im Netz einen Text veröffentlicht, bekommt oft einen gut gemeinten Ratschlag: Niemals weiter lesen als bis zur Autorenzeile am Ende des Artikels. Denn danach wird es ungemütlich. Verschwörungstheorien und Paranoia, aber auch Sexismus und Homophobie. Die Kommentarbereiche vieler Seiten sind ein Tobeplatz für sogenannte Trolle. Das sind anonyme Störenfriede im Netz, die hartnäckig nichts zur Sache beitragen. Wer sie mit Aufmerksamkeit füttert, findet sich schnell selbst im aggressiven Kommentarkreuzfeuer wieder.

Internet-Experten sehen das "Trollen" aber auch als Teil einer lebendigen Netzkultur. Im Herbst 2012 fand in Mannheim die erste Internationale Konferenz "Trollcon" statt.

Ob kunstvolle Provokation oder stumpfsinnige Beleidigung, die Frage bleibt, wie viel Freiheit soll es für Kommentare geben? Und wer haftet eigentlich für sie? Das Internetportal selbst in die Verantwortung zu nehmen, verstößt jedenfalls nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einer aktuellen Kammerentscheidung (Urt. v. 10.10.2013, Az. 64569/09).

Netiquette, Wortfilter, Meldefunktion – alles nicht genug

In dem Fall, der die Straßburger Richter beschäftigte, hatte das Newsportal Delfi aus Estland über eine öffentliche Fährgesellschaft berichtet, die im Winter ihre Routen ändern wollte mit Auswirkung auf die Anbindung vieler Inseln zum Festland. In den folgenden zwei Tagen erhielt der Beitrag 185 Kommentare. Dabei kam es zwanzig Mal zu rassistischer Hetze und Todesdrohungen gegen den Hauptaktionär der Fährlinie.

Obwohl das Portal die anonymen Kommentare nach Aufforderung entfernte, verurteilten es die estnischen Gerichte dazu, der Fährgesellschaft Schadensersatz für die Ehrverletzungen zu zahlen. Die Betreiber des Nachrichtenportals sahen sich dadurch in ihrer Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK verletzt und zogen nach Straßburg. Ohne Erfolg. Der EGMR entschied, dass das estnische Urteil zwar die Meinungsfreiheit verletzt. Dieser Verstoß sei aber gerechtfertigt.

Zwar hätte das Fährunternehmen auch versuchen können, die Kommentatoren selbst in Haftung zu nehmen. Deren Identität könne aber nur sehr schwierig festgestellt werden, weil die Nutzer kommentieren konnten, ohne ihre Namen zu registrieren. Stattdessen Delfi selbst haftbar zu machen, sei verhältnismäßig, da das Portal immerhin wirtschaftlich von den Kommentaren profitiere.

Die eigentliche Spannung dieser Entscheidung steckt in einem unauffälligen Satz gegen Ende der Entscheidung. Das Portal habe keine ausreichenden Vorkehrungen gegen Ehrverletzungen Dritter getroffen, heißt es da. Das müsste Magazine, Rezeptsammlungen und Blogs im Internet aufhorchen lassen, war das Portal doch alles andere als wehrlos gegenüber den Trollen aufgestellt. Es gab Regeln für die Kommentare, einen automatischen Wortfilter und eine Meldefunktion für störende Kommentare. Den estnischen Gerichten war das nicht genug. Jetzt haben sie Rückendeckung aus Straßburg bekommen.

Auswirkung für deutsche Nachrichtenportale

Was bedeutet das für Deutschland? "Die Entscheidung betrifft eine heiß diskutierte Frage bei der Providerhaftung", sagt Internetrechtler Christian Volkmann von der Berliner Kanzlei Merleker Mielke. Interessant sei daran aber nicht so sehr, was der EGMR geprüft, sondern das, was er nicht geprüft habe. Die Richter in Straßburg entschieden den Fall anhand der EMRK. Die unionsrechtlichen Vorgaben der E-Commerce-Richtlinie mussten sie nicht prüfen. Diese geben aber den Maßstab für die Haftung der Provider vor. Art. 14 der Richtlinie und seine Umsetzung im deutschen § 10 Telemediengesetz (TMG) enthalten recht großzügige Haftungsprivilegierungen. Danach sind Betreiber einer Seite nicht für fremde Inhalte verantwortlich, solange sie keine Kenntnis von diesen haben.

Wäre das anders, dann hätten Seitenanbieter ein hartes Leben. Sie müssten jederzeit ihre Kommentare auf rechtswidrige Inhalte überprüfen. Oder aber die Kommentare erst nach eigener Prüfung zur Veröffentlichung freigeben. Von einer kritischen und lebendigen Netzkultur bliebe höchstwahrscheinlich nicht viel übrig.

Art. 15 der Richtlinie betont zusätzlich, dass es keine allgemeine Überwachungspflicht geben soll. Die Richtlinie wolle die Anbieter im Internet gerade nicht dazu verpflichten, alle Kommentare aktiv vor ihrer Veröffentlichung zu prüfen, sagt Volkmann. Das sahen die Gerichte in Estland anders. Eine klarstellende Vorlage an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) ist unterblieben.

Die Unterscheidung zwischen kommerziellen und nicht-kommerziellen Anbietern, von der die estnischen Gerichte ausgingen und die auch der EGMR nachvollzogen hat, überzeugt Volkmann nicht. Insgesamt sieht Volkmann die Haftungssituation für deutsche Betreiber durch die EGMR-Entscheidung nicht verschärft.

Chilling effect für Online-Medien?

Auch Thomas Hoeren, Direktor des Instituts für Informationsrecht an der Uni Münster, schätzt die Auswirkungen für die Rechtslage in Deutschland als eher gering ein. "Das ist schon ein sehr spezieller Fall." Unabhängig davon sei die Lage zur Verantwortlichkeit der Provider in Deutschland bisher ziemlich diffus. Hoeren sieht die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aber auf dem Weg zu einem "Notice-And-Take-Down-Verfahren". Danach haftet nur noch, wer auf einen entsprechenden Hinweis hin den gerügten Inhalt nicht umgehend löscht.

Speziell liest sich für Online-Medien auch noch eine andere Passage der EGMR-Entscheidung. Dem Nachrichtenportal wird nämlich vorgeworfen, es hätte sich von vorneherein darüber im Klaren sein müssen, dass ein solcher Beitrag negative Reaktionen hervorrufen würde. Das Portal hätte auch damit rechnen müssen, dass die Kommentare das Feld der konstruktiven Auseinandersetzung verlassen und in Beleidigung und Drohungen umschlagen würden. "Das greift natürlich voll in die Pressefreiheit ein", meint Hoeren.

Müssen Presseportale schon vor der Veröffentlichung darüber nachdenken, ob sie für kontroversen Journalismus haften? Darüber werden bestimmt auch bald die Trolle diskutieren.

Zitiervorschlag

Markus Sehl, EGMR zu Nutzerkommentaren: . In: Legal Tribune Online, 23.10.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9868 (abgerufen am: 07.11.2024 )

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