Auf den Straßen Frankreichs darf sich weiterhin niemand in Burka oder Nikab blicken lassen. Das Verbot wird mit einer Geldstrafe oder einem Staatsbürgerkundekurs geahndet. Der EGMR hat damit kein Problem. Immerhin gehe es um die Minimalanforderungen eines gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das Urteil ist unerwartet, inkonsequent und enttäuschend, findet Kirsten Wiese.
Frankreich hat unter dem damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy 2011 die "Verhüllung des Gesichts" im öffentlichen Raum untersagt. Das Gesetz erwähnt nicht ausdrücklich die Burka, das vor allem von Frauen in Afghanistan getragene Gewand, das Körper und Gesicht bis auf ein Gitter vor den Augen fast vollständig verdeckt, und den Nikab, also den Schleier, der das Gesicht bis auf einen Sehschlitz verdeckt. Die damalige öffentliche Debatte um das Gesetz macht aber klar, dass es genau um diese beiden Kleidungsstücke ging. Zur Sicherheit nahm der französische Gesetzgeber noch Karnevalskostüme, Trachten und Motorradhelme von dem Verbot ausdrücklich aus. Betroffen sind von dem Burka-Bann schätzungsweise maximal 2.000 Frauen.
Bei einem Verstoß droht den Frauen eine 150-Euro-Strafe oder ein Staatsbürgerkundekurs. Männer, die ihre Frauen zum Tragen von Schleiern zwingen, können sogar mit ein bis zwei Jahre Haft oder einer Geldstrafe von mindestens 30.000 Euro bestraft werden. Bislang sind Schätzungen zufolge maximal 700 Bußgelder verhängt worden.
Kritik am Verbot beeindruckt EGMR nicht
Gegen das Gesetz ist eine 24-jährige Französin und praktizierende Muslimin bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gezogen. Sie trägt sowohl Burka als auch Nikab, beides jedoch nicht systematisch. Weder ihr Ehemann noch von sonst jemand zwinge sie, sich zu verhüllen. Das französische Verbot verletzte sie aber in ihrem Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)), in ihrer Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) und in ihrem Recht, nicht aus Gründen der Religion und des Geschlechts diskriminiert zu werden, (Art. 14 EMRK).
In der mündlichen Verhandlung vor dem EGMR deuteten ihre Anwälte Kompromissbereitschaft an. Ihre Mandantin sei bereit, der Polizei ihr Gesicht zu zeigen, wenn dies erforderlich sei. Auch könne sie einen transparenten Schleier tragen.
Die Große Kammer des EGMR beeindruckte das genauso wenig wie die Kritik in den Medien und des ehemaligen Menschenrechtskommissars des Europarates, Thomas Hammarberg, der 2010 geschrieben hatte: "Women should be free to choose how to dress, without interferences neither from their communities nor from state authorities." Vielmehr bestätigten die Straßburger Richter das Verbot unerwartet (Urt. v. 01.07.2014, Az. 43835/11).
Unerwartet weiter Beurteilungsspielraum für Frankreich
Zwar seien von dem Verbot vor allem muslimische Frauen betroffen, es ziele aber nicht maßgeblich gegen religiöse Kleidung, sondern nur gegen die Verschleierung des Gesichts. Das Recht auf Nicht-Diskriminierung wegen des Geschlechts sei deshalb gar nicht berührt.
Einen Eingriff in die Religionsfreiheit der französischen Muslimin und in ihr Recht auf Privatsphäre nahm der Gerichtshof dagegen an. Diesen rechtfertige jedoch das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens als Teil der immateriellen öffentlichen Ordnung zu schützen. Dazu zähle auch die Erkennbarkeit des Gesichts für Mitmenschen, denen man im öffentlichen Raum begegnet.
Frankreich habe zudem einen weiten Beurteilungsspielraum bei der Frage, ob diese Beschränkung der Religionsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft tatsächlich notwendig ist. Dies gelte umso mehr, als die Mitgliedstaaten des Europarates keine einheitliche Meinung darüber hätten, ob das Tragen einer Burka im öffentlichen Raum zulässig sein soll.
Der EGMR bleibt seiner eigenen Rechtsprechung zur Religionsfreiheit damit nicht treu: Soweit öffentliche Bildungseinrichtungen und die öffentliche Sicherheit betroffen waren, hat der Gerichtshof bislang ausnahmslos das Verbot religiöser Kleidung und Symbole gebilligt. Dagegen hat er 2010 ein türkisches Strafurteil gegen Mitglieder einer Religionsgemeinschaft, die religiös bekleidet durch die Straßen gezogen waren, für menschenrechtswidrig erklärt.
Damals betonte der EGMR, dass der türkische Staat religiöse Kleidung in der Öffentlichkeit nicht mit derselben Freiheit verbieten könne, wie religiöse Kleidung in Bildungseinrichtungen – der Beurteilungsspielraum sei für ersteres enger (Urt. v. 23.10.2010, Az. 41135/98 ).
Die ebenfalls von Frankreich angeführten Sicherheitsbedenken – Wer versteckt sich unter der Burka? – ließ der EGRM dagegen nicht gelten.
2/2: Burkaverbote in anderen europäischen Ländern
Unmittelbar trifft das Urteil nur Frankreich. Sicher fühlen kann sich jetzt aber auch Belgien. Dort gilt seit 2011 ein ähnliches Verschleierungs-Verbot. Im Schweizer Kanton Tessin haben sich im September 2013 in einem Volksentscheid 65 Prozent der Bevölkerung für ein Gesichtsschleierverbot in der Öffentlichkeit ausgesprochen. Noch muss allerdings der Bundesrat – die Schweizer Bundesregierung – beurteilen, ob das Gebot bundesrechtskonform ist. Und auch in anderen europäischen Ländern, insbesondere in den Niederlande und Österreich, werden in Abhängigkeit von den jeweiligen politischen Mehrheiten seit Jahren immer mal wieder entsprechende Vorstöße gemacht.
In Deutschland ist es nach wie vor in acht Bundesländern verboten, als Lehrer religiöse Symbole und Kleidungsstücke zu tragen, in Hessen und Berlin gilt das auch für Staatsbedienstete (das trifft etwa auch Referendarinnen bei der Sitzungsvertretung für die Staatsanwaltschaft). Burka und Nikab spielten aber bislang keine große Rolle. 2010 – zu Zeiten der entsprechenden Debatten in Frankreich – wurden in Deutschland vereinzelt Burkaverbote in der Öffentlichkeit gefordert, dem stand aber eine starke öffentliche Meinung gegenüber, dass diese grundgesetzwidrig seien. 2011 erließ Hessen aufgrund eines konkreten Falles in Frankfurt auch ein ausdrückliches Burkaverbot für den öffentlichen Dienst.
Frankreich kann nun vorerst weiterhin seine laizistische Politik verfolgen. Der französische Verfassungsgerichtshof hatte das Verbotsgesetz bereits 2010, gleich nachdem es verabschiedet worden ist, für verfassungsmäßig erklärt. Laizismus, die völlige Enthaltsamkeit des Staates in weltanschaulichen Fragen, ist ein eigenständiges Rechtsprinzip in der französischen Verfassung und Gründungsbaustein der Französischen Republik. Staatliche Bedienstete dürfen daher in Frankreich seit jeher keine religiösen Symbole und Kleidungsstücke tragen.
Auch private Kindergärten müssen keine Erzieherin mit Kopftuch beschäftigen – das hat das oberste französische Zivilgericht erst in der vergangenen Woche entschieden. Ebenso wenig dürfen seit 2004 Schüler offensichtlich religiöse Symbole an öffentlichen Schulen tragen. 2013 wurde debattiert, dieses Verbot auf Studenten auszuweiten. Gegen diese Verbote hatte der EGMR bislang ebenfalls nichts einzuwenden, vielmehr hielt er 2009 das Verbot religiöser Kleidung – neben Kopftüchern auch Sikh-Turbane – an öffentlichen Schulen für rechtens.
Laxer Umgang mit islamfeindlichen Motiven enttäuscht
Die französische Debatte um Burka- und Nikabverbote wurde zwar primär unter dem Aspekt "Schutz der republikanischen Werte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" geführt. Danach ist es in Frankreich staatsbürgerliche Pflicht, sich in die Gesellschaft zu integrieren und dabei das Gesicht zu zeigen. Anderseits wurde das Verbot von Anfang an vor allem von Feministinnen stark kritisiert. Vermutet wurde zudem, dass Sarkozy damals mit dem Gesetz und den begleitenden islamfeindlichen Debatten von innenpolitischen Problemen ablenken wollte.
Der EGMR hat in seinem Urteil diese Islamfeindlichkeit der öffentlichen Debatte zwar gesehen, dies aber nur zum Anlass für einen Appell an die französische Regierung genommen, die Werte der EMRK – Toleranz, Sozialer Frieden und Nicht-Diskriminierung – zu wahren.
Dieser laxe Umgang der Straßburger Richter mit den islamfeindlichen Motiven des Verhüllungsverbotes enttäuscht. In der Tat gehen die europäischen Staaten mit Religion und Weltanschauung sehr unterschiedlich um. Das rechtfertigt einen gewissen Beurteilungsspielraum zugunsten der Mitgliedstaaten der EMRK.
Entscheidend ist aber, die mehr oder weniger starke Feindseligkeit, die Muslimen in vielen europäischen Ländern begegnet. Da sich die EMRK-Staaten alle dazu verpflichtet haben, ihre Bürger gleich zu behandeln, ist es am EGMR, den Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten zugunsten dieser Gleichbehandlung einzuschränken und die individuelle Religionsfreiheit zu stärken. Das würde ein demokratisches Zusammenleben in Europa sicher sehr fördern.
Die Autorin Dr. Kirsten Wiese ist Juristin und Mitglied der Grünen. Neben ihrer Arbeit bei der Senatorin für Finanzen in Bremen interessiert sie sich für Fragen von Gleichbehandlung und Religionsfreiheit. Der Artikel gibt ausschließlich ihre persönliche Ansicht wieder.
Dr. Kirsten Wiese, EGMR bestätigt Burkaverbot: Was braucht es für ein demokratisches Zusammenleben? . In: Legal Tribune Online, 01.07.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12413/ (abgerufen am: 30.05.2023 )
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