Keine Revolution im Beamtenrecht: Der EGMR hat das Streikverbot für verbeamtete Lehrer bestätigt. Vier hatten geklagt, nachdem ihre Gehälter nach einer Teilnahme an einem Streik gekürzt worden waren.
Mit einer Gegenstimme hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) das Streikverbot für verbeamtete Lehrer:innen in Deutschland aufrecht erhalten. Das Gericht sieht in Disziplinarmaßnahmen wegen der Teilnahme an Streiks keine Verletzung des Rechts auf Versammlungs -und Vereinigungsfreiheit aus Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK; EGMR, Urt. v. 14.12.2023, Beschw.-Nr.: 59433/18, 59477/18, 59481/18, 59494/18).
Geklagt hatten vor dem EGMR - unterstützt von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) - drei Lehrerinnen und ein Lehrer aus Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein – alle sind verbeamtet. Sie waren in den Jahren 2009 und 2010 jeweils zwischen einer Stunde und drei Tagen nicht in ihre Schulen gegangen, um für bessere Lern- und Arbeitsbedingungen zu streiken. Es folgten Disziplinarmaßnahmen in Form von Gehaltskürzung und Bußgeldern, immerhin hatten sie nach deutschem Recht ihre Arbeitsleistung nicht erbracht und waren ohne Rechtsgrundlage der Arbeit ferngeblieben.
Die Lehrer:innen klagten gegen die ergangenen Bescheide vor verschiedenen Verwaltungsgerichten und dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG), immer ohne Erfolg. Denn Beamten in Deutschland ist streiken untersagt, ein Verstoß wird mit behördlichen Maßnahmen geahndet.
Zwar ist dies ein Eingriff in die Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG) Doch dieser ist nach Ansicht des 2. Senats des BVerfG gerechtfertigt, denn das Streikverbot sei ein eigenständiger hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG (BVerfG, Urt. v. 12.06.2018, Az. 2 BvR 1738/12 u.a.). Das BVerfG hatte in seiner Entscheidung noch betont, dass das Grundgesetz ein Streikverbot für Beamte vorsieht, das mit der EMRK und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vereinbar sei. Diese Vereinbarkeit hatte das zunächst mit den Fällen befasste Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) noch anders gesehen und sah den Gesetzgeber in der Pflicht.
EGMR-Urteil mit einer Gegenstimme
Die Große Kammer des EGMR hat nun einen genauen Blick auf die nationalen Regelungen für verbeamtete Lehrer in Deutschland geworfen und mit einer Gegenstimme die Klagen der Lehrer:innen abgewiesen. Sie seien durch die Disziplinarmaßnahmen, die sie nach der Teilnahme an den Streiks kassiert hatten, nicht in ihren Rechten verletzt worden, entschied der EGMR.
Wie auch das BVerfG zuvor stellte der Gerichtshof insbesondere fest, dass das Streikverbot für verbeamtete Lehrer dazu diene, die Erfüllung der staatlichen Aufgaben durch eine effiziente öffentliche Verwaltung einschließlich der Bereitstellung von Bildung zu gewährleisten. Dieser Zweck sei legitim. Auch ohne das Recht, zu streiken, seien die Gewerkschaften von Lehrer:innen nicht bedeutungslos. Vielmehr seien sie institutionell in der Lage, die beruflichen Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten.
Zwar berühre ein Streikverbot das Recht auf Vereinigungsfreiheit aus Art. 11 EMRK. In dieses Recht sei durch das Verbot und die Disziplinarmaßnahmen auch eingegriffen worden. Eine rechtswidrige Verletzung des Rechts sah der Gerichtshof allerdings nicht, denn Deutschland habe mit Art. 33 Abs. 5 GG sowie den verschiedenen Beamtenstatusgesetzen und Beamtengesetzen der Länder Rechtsgrundlagen für das Streikverbot.
Auch sei es den klagenden Lehrer:innen nicht verwehrt, sich grundsätzlich in Gewerkschaften zu organisieren – und davon hätten sie ja auch Gebrauch in Form ihrer Mitgliedschaft in der GEW gemacht. Der hohe Organisationsgrad in den zuständigen Gewerkschaften sei zudem ein Indiz dafür, dass diese über Streikmaßnahmen hinaus im Sinne der Beamten tätig sein könnten.
Die Bußgelder in Höhe geringer dreistelliger Beträge sind nach Auffassung des EGMR auch maßvoll gewesen. Dies gelte insbesondere in Hinblick auf die tatsächlichen Beschäftigungsbedingungen von verbeamteten Lehrer:innen in Deutschland und vor dem Hintergrund, dass man auch als angestellter Lehrer arbeiten könne, der dafür streiken dürfte.
Der Gerichtshof gelangte zu dem Schluss, dass die gegen die klagenden Lehrer:innen ergriffenen Maßnahmen den Ermessensspielraum des Staates nicht überschritten hätten und in einem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten wichtigen legitimen Zielen stünden.
EGMR musste mögliche Diskriminierung nicht prüfen
Ob in dem Streikverbot eine Diskriminierung nach Art. 14 EMRK der verbeamteten Lehrer:innen gegenüber den angestellten liegen könnte, hatte der EGMR nicht zu entscheiden: Diesen Vortrag hatten die klagenden Lehrkräfte erstmals vor dem EGMR vorgetragen, obwohl der Rechtsweg bei den nationalen Gerichten nicht erschöpft war.
Die ebenfalls vorgetragene Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK liege hingegen nicht vor, entschied der EGMR. Das habe das BVerfG sichergestellt und insbesondere – entgegen dem Vortrag der klagenden Lehrkräfte – die einschlägigen internationalen Verträge berücksichtigt.
"Streikverbot ist kein Menschenrechtsverstoß"
Hätte der EGMR anders entschieden, hätte das erhebliche Folgen für das Berufsbeamtentum in Deutschland gehabt. Nun, sagt Robert Hotstegs, Rechtsanwalt in Düsseldorf und auf Beamtenrecht spezialisiert, "bleibt zunächst alles beim Alten. Das Streikrecht ist nicht pauschal mit dem Beamtenrecht zu vereinen".
Dennoch sei die Entscheidung von großer Bedeutung, denn im Grundgesetz stehe eine sogenannte Fortentwicklungsklausel des Beamtenrechts festgeschrieben. Es dürfe entsprechend weiterentwickelt werden und Bund und Länder müssten sich nun nach dieser Entscheidung fragen, ob es nicht an der Zeit wäre, Leitplanken zu verändern, so Hotstegs. Das gelte umso mehr, als alle wichtigen Impulse im Dienstrecht zuletzt aus Europa gekommen seien, nämlich entweder vom EuGH oder vom EGMR. Hotstegs: "Hier könnte der Bundestag durchaus gestaltender tätig werden."
Prof. Dr. Stefan Greiner Professor für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht und Sozialrecht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und seit 2018 zudem Direktor des dortigen Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit, hingegen meint: "Mit seiner Entscheidung bekräftigt der EGMR die auch bislang schon in Deutschland überwiegend vertretene Sichtweise: Ein Beamtenstreikverbot ist auch außerhalb der hoheitlichen Kernbereiche kein Menschenrechtsverstoß, sofern auf andere Weise für eine angemessene Entwicklung der Arbeitsbedingungen und hinreichende gewerkschaftliche Einflussnahme gesorgt ist. Infolge des gerichtlich durchsetzbaren Anspruchs auf amtsangemessene Alimentation ist dies zu bejahen."
Für Greiner handelt es sich "um eine abgewogene und überzeugende Entscheidung: Der EGMR respektiert die Besonderheiten des deutschen Berufsbeamtentums, betont aber zugleich, dass die Wertungen des Art. 11 EMRK auch dort Beachtung finden müssen: Ein Ausschluss des Streikrechts lässt sich auf dieser Grundlage generell nur dann mit Art. 11 EMRK vereinbaren, wenn die Rechte der Betroffenen – und ihrer Gewerkschaften – auf andere Weise wirksam und justitiabel abgesichert sind."
EGMR zu den Rechten von Beamten: . In: Legal Tribune Online, 14.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53423 (abgerufen am: 05.10.2024 )
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