Zwar ist Frankreich nicht verpflichtet, zum IS Ausgereiste zurückzuholen – Behörden und Gerichte müssen Anträge aber genauer prüfen. Die Verantwortung der EU-Staaten für ihre Staatsbürger reicht weiter als bisher angenommen, so der EGMR.
Aus der europäischen Menschenrechtskonvention ergibt sich kein genereller Anspruch für IS-Anhängerinnen, die sich in Lagern in Nord-Syrien aufhalten, in europäische Staaten zurückgeholt zu werden. Dennoch verurteilte die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) am Mittwoch Frankreich, weil es den Forderungen zweier Großelternpaare, ihre Töchter und ihre Enkelkinder zurückzuholen, in dem Verfahren nicht ausreichenden Rechtsschutz gewährt hat (Urt. v. 14.09.2022, Beschwerden 24384/19 and 44234/02).
Das Urteil aus Straßburg enthält eine ganze Reihe grundsätzlicher Erwägungen, die Auswirkungen auf den rechtlichen und politischen Umgang mit Europas IS-Anhängern haben werden. Da die Frauen und Kinder sich in kurdischen Camps in Nordsyrien und damit in einer Art diplomatischem und rechtlichem Niemandsland befinden, war der EGMR auch damit konfrontiert sich zur Reichweite der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu äußern – und die Richterinnen und Richter wollen für diese Fälle eine "rechtliche-Verbindung" erkennen. Daraus ergebe sich eine rechtliche Verantwortung der Staaten für ihre europäischen Staatsbürgerinnen auch in Nordsyrien.
Dort sitzen die Frauen, die sich 2014 bzw. 2015 dem sogenannten Islamischen Staat (IS) angeschlossen hatten, seit 2019 mit ihren kleinen Kindern fest. Nachdem kurdische Streitkräfte IS-Städte besiegt und befreit hatten, fielen ihnen auch Zehntausende Gefangene in die Hände, die sie unterbringen mussten. Die humanitäre Situation vor allem in dem großen Lager Al Hol wird von Hilfsorganisationen als "kritisch" beschrieben. Nach Angaben des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes leben dort rund 60.000 Menschen, Zweidrittel davon seien Frauen und Kinder. NGOs sprechen von "Europas Guantanamo", außerdem sei die Lage innerhalb des Camps weitgehend unkontrolliert und von Gewalt geprägt. Die Eltern bzw. Großeltern in Frankreich hatten sich mit Briefen an den französischen Präsidenten, aber auch mit Anträgen an die Verwaltung und die Gerichte gewandt. Alle Versuche blieben erfolglos.
Ein Urteil gegen Frankreich mit Auswirkungen für alle EU-Staaten
Das Urteil des EGMR richtet sich zwar gegen Frankreich, wurde aber von vielen europäischen und überhaupt den EMRK-Staaten mit Spannung erwartet. Dem Verfahren, das im Herbst 2021 verhandelt wurde, traten sieben weitere Länder, darunter Niederlande und Großbritannien bei – Deutschland schloss sich nicht an. Die Staaten schickten auch Vertreterinnen und Vertreter nach Straßburg und argumentierten dort wie Frankreich. Und zwar so: Frankreich habe keinerlei "effektive Kontrolle" in dem Gebiet, keine diplomatische Vertretung, kein Konsulat und könne deshalb gar nicht auf die Lage der Frauen und Kinder in den Lagern einwirken. Die EMRK sei mithin gar nicht anwendbar – und alles andere würde die staatliche Verantwortung zu weit ausdehnen. Frankreich sei in Nordsyrien also zu nichts verpflichtet, könne allenfalls aus eigenem Antrieb Rückholaktionen durchführen, wie in der Vergangenheit auch geschehen.
Die Beschwerdeführer argumentierten, dass die Weigerung der französischen Regierung, ihre Töchter und Enkelkinder zurückzuholen, diese einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung aussetze – und damit ein Verstoß gegen Artikel 3 der EMRK vorliege.
Hier folgte der EGMR im Wesentlichen der Verteidigung Frankreichs und der beigetretenen EU-Staaten. Einen Verstoß gegen Artikel 3 der EMRK wollte die Große Kammer nicht erkennen, Frankreich gerät durch die bloße Nicht-Rückführung nicht in die Verantwortung für humanitäre Gefahren in den nordsyrischen Lagern. Die Richterinnen und Richter nahmen aber Bezug auf ein Zusatzprotokoll zur EMRK. Dort ist geregelt, dass niemand daran gehindert werden darf, in das Hoheitsgebiet seines Heimatlandes einzureisen (Artikel 3 Absatz 2 Zusatzprotokoll Nr. 4). Zwar habe Frankreich den Betroffenen nicht die Einreise formal verweigert, einen Verantwortungszusammenhang stellt der EGMR aber trotzdem her.
Verantwortung der Heimatstaaten für ihre Staatsbürgerinnen
Gerade vor dem Hintergrund internationalen Terrorismus markiert der EGMR eine Verantwortung der Heimatstaaten für ihre ausreisenden Staatsbürger. Und meint dabei bei näherer Betrachtung offenbar nicht nur eine staatsbürgerliche gegenüber den Betroffenen, sondern auch eine politische, indem mutmaßliche Terroristinnen und Terroristen nicht zur Belastung von Drittstaaten werden sollen. Der so hergestellte Verantwortungszusammenhang führt nicht zu einer Rückholpflicht aber dazu, dass in den Staaten – hier Frankreich – eine ausreichende rechtstaatliche Möglichkeit bestehen muss, vermittelt über Angehörige den konkreten Fall zu einer echten und willkürfreien Entscheidung durch Verwaltung und Gerichte zu bringen.
Der EGMR betont allerdings, dass es zusätzlich auf die Umstände des Einzelfalls ankommt. Ausschlaggebend war in dem Fall der Großelternpaare, dass sie eine ganze Reihe von Behörden eingeschaltet hatten und sich dabei auf fundamentale Werte der EMRK stützen konnten. Angeführt hatten sie insbesondere, dass die Frauen und Kinder in den Camps keine Möglichkeit haben, ohne staatliche Unterstützung die Camps zu verlassen und die französische Grenze zu erreichen. Sowie die drohenden Gefahren für die Kinder vor Ort. Außerdem hatten kurdische Kräfte die Übergabe der Betroffenen in Aussicht gestellt.
Als Folge des Urteils müssen die Fälle in Frankreich neu bewertet und entschieden werden, unter besonderer Berücksichtigung der Verfahrensvorgaben des EGMR. Das Gericht verurteilte Frankreich zur Zahlung von 18.000 und 13.200 Euro Entschädigung für die beiden Familien.
Die Straßburger Richterinnen und Richter haben ihre Ausführungen dazu, was das französische Verwaltungs- und Rechtssystem anbieten muss, mit erkennbarer Vorsicht formuliert. Sie schicken voraus, dass sie sich nicht in die französische Jurisdiktion einmischen wollen. Andererseits hielten sie die bisherigen Auseinandersetzungen der Behörden und Gerichte – immerhin gingen die Fälle sogar bis zum höchsten Verwaltungsgerichtshof Frankreichs, dem Conseil d'Etat – für nicht ausreichend. Letzterer wollte wie die Vorinstanzen die Abweisungen mit angeblich fehlender Zuständigkeit begründen.
Auswirkungen für Deutschlands Umgang mit IS-Rückkehrerinnen
Ganz unabhängig davon, dass Deutschland dem Verfahren nicht beigetreten ist, wird das Urteil auch hierzulande Auswirkungen haben. Nach Informationen der Bundesregierung sind rund 1.150 Personen seit 2011 aus Deutschland zum IS nach Syrien und in den Irak ausgereist, ein Viertel davon waren Frauen. Bislang sind etwa 90 von ihnen zurückgekehrt, 26 Frauen wurden bereits verurteilt.
Vereinzelt gab es Fälle, in denen auf Rückholung geklagt wurde. 2019 war ein Eilverfahren beim OVG Berlin-Brandenburg erfolgreich, Kinder mit ihren Müttern aus dem Lager Al Hol zurück nach Deutschland zu holen. Gerade in den letzten zwei Jahren gab es aber auch größer angelegte, selbst von der Regierung angeschobene Rückholaktionen, bei denen ganze Gruppen von Müttern und Kindern zurückgebracht wurden. Seit 2019 wurden so insgesamt 22 Frauen sowie 69 Kinder nach Deutschland zurückgeführt. Damit ist Deutschland eines der wenigen europäischen Länder, die auch erwachsene Frauen, Mütter von Minderjährigen, aus Nordostsyrien zurückholen.
Einige der Frauen erwartet bei der Rückkehr an einem deutschen Flughafen bereits ein Haftbefehl. Mittlerweile hat die Justiz im strafrechtlichen Umgang mit Frauen, die beim IS waren, Erfahrung sammeln können. Einige besonders grausame Fälle von Kriegsverbrechen werfen strafrechtlich keine grundsätzlichen Schwierigkeiten auf, mal abgesehen von der Beweiserlangung in einem fernen Bürgerkriegsland. Aber war zunächst in den ersten Rückkehr-Fällen noch unklar, ob Frauen, die beim IS keine offensichtlichen Verbrechen begangen und nicht nachweisbar eine aktive Rolle etwa in der Verwaltung oder beim Wachdienst übernommen hatten, dennoch als Mitglieder in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (§ 129a, 129b Strafgesetzbuch, mit Strafmaß von einem bis maximal zehn Jahre Freiheitsstrafe) strafbar gemacht haben, hat sich mittlerweile zwischen Bundesanwaltschaft, Bundesgerichtshof und der Länderjustiz auch für diese Fälle eine Linie abgezeichnet.
So gut wie alle Rückkehrerinnen, denen strafrechtlich ein Vorwurf gemacht wird, werden wegen völkerstrafrechtlicher Plünderung verfolgt (§ 9 Völkerstrafgesetzbuch). Selbst wenn Frauen nach allem was man weiß auf dem Gebiet des IS nur ein "Alltagsleben" geführt haben, haben so gut wie alle ein Haus oder eine Wohnung in Beschlag genommen, deren vorherige Bewohner vertrieben wurden. Eine solche völkerstrafrechtlich relevante Plünderung begründet dann aus Sicht der Staatsanwaltschaften und der Gerichte eine Mitgliedschaft in der Terrororganisation IS. Auch diese relative Rechtssicherheit bei der strafrechtlichen Einschätzung unter den Zweifelsfällen der Rückkehrerinnen mag Bewegung in die Rückholung durch Deutschland gebracht haben. Der EGMR hat mit seinem Urteil am Mittwoch die Verantwortung der europäischen Staaten jedenfalls noch einmal unterstrichen.
Neue Phase: Die schwere Last aus dem Kampf gegen den IS
Seitdem der IS spätestens 2019 sein Territorium in Syrien und im Irak verloren hat und in seiner damaligen Form besiegt wurde, sind mittlerweile drei Jahre vergangen. Das Schicksal der männlichen europäischen Kämpfer, die in Nordsyrien in Gefängnissen sitzen, scheint noch völlig offen. Und auch im Umgang mit den IS-Anhängerinnen stellen sich neben der immer noch ausstehenden Rückholung bereits neue Herausforderungen für die Justiz und Sicherheitsbehörden.
Bereits Verurteilte dürfen die Gefängnisse in Deutschland nach Verbüßung ihrer Strafen nach wenigen Jahren wieder verlassen. Damit enden nicht selten auch die Deradikalisierungs- und Reintegrationsprogamme. Auf der anderen Seite werden nun Frauen und Kinder zurückgeholt, die mehrere Jahren unter zum Teil katastrophalen Bedingungen, teilweise weiter unter dem ideologischen Einfluss des IS in Gefangenenlagern verbracht haben. Der juristische und politische Umgang mit ihnen tritt absehbar in eine neue Phase der Verantwortung ein. Der EGMR hat mit seinem Urteil klar gestellt, dass europäische Staaten sich dieser Verantwortung stellen müssen.
EGMR zur Rückholung aus Syrien: . In: Legal Tribune Online, 14.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49623 (abgerufen am: 08.10.2024 )
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