Die Überlebenden des Bootsunglücks von Farmakonisi bekommen eine Entschädigung – und der EGMR hat einen Abschiebeflug von England nach Ruanda gestoppt. Ein Rückblick auf die sieben wichtigsten Entscheidungen aus Straßburg.
Das Jahr 2022 war geprägt von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine – und auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat sich damit beschäftigt. In einer einstweiligen Maßnahme hat er Russland schon kurz nach Beginn des Krieges aufgefordert, Angriffe auf zivile Ziele zu unterlassen. Oft kommt das nicht vor – und bald wird der EGMR Russland auch nicht mehr zur Verantwortung ziehen können. Seit Mitte September 2022 ist Russland formell kein Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) mehr. Wegen des brutalen Krieges hatte der Europarat den Staat zunächst suspendiert und dann ganz ausgeschlossen, zudem hatte Russland angekündigt, "freiwillig" aus dem Europarat auszutreten.
Außerdem ging es in verschiedenen Entscheidungen um das Schicksal geflüchteter Menschen. So hat der EGMR entschieden, dass Nordmazedonien rund 1.500 Flüchtlinge zurück nach Griechenland schickten durfte. Die Menschen waren im Rahmen des sogenannten "March of Hope" aus dem griechischen Flüchtlingslager Idomeni bis nach Nordmazedonien gelaufen, einige Kilometer hinter der Grenze aber abgefangen und zurück nach Griechenland gebracht worden. Das war laut EGMR rechtmäßig. Zudem hat der EGMR einen Abschiebeflug von England nach Ruanda gestoppt und Griechenland muss den Überlebenden des Bootsunglücks vor der Insel Farmakonisi sowie Angehörigen der Getöteten eine Entschädigung in Höhe von 330.000 Euro zahlen.
Diverse Fälle aus Deutschland standen ebenfalls auf der Agenda des EGMR. So scheiterten unter anderem mehrere Gewerkschaften mit ihrer Beschwerde gegen das deutsche Tarifeinheitsgesetz und Deutschland hat einen Vorwurf des Racial Profilings nicht ausreichend geprüft.
Der Menschengerichtshof hat auch eine Grundsatzentscheidung zur Rückholung von IS-Anhängerinnen mit europäischen Staatsbürgerschaften getroffen: Zwar haben diese keinen Anspruch, aus den Lagern in Nordsyrien in ihre Heimatstaaten zurückgebracht zu werden, Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten müssen entsprechende Anträge aber genauer prüfen.
Ausblick auf 2023
In Zukunft will der EGMR übrigens effizienter werden – und deshalb gilt jetzt eine kürzere Beschwerdefrist: Seit dem 1. Februar 2022 können Beschwerden nur noch innerhalb von vier anstatt sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung eingereicht werden.
Ukraine-Krieg, Push-Backs und Verantwortung für die IS-Frauen: Das Jahr 2022 beim EGMR war erneut von brisanten, politischen Themen geprägt. Auch für das kommende Jahr stehen schon einige spannende Punkte auf der Agenda: Ab Ende März verhandelt der EGMR die Beschwerde der KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz. Und auch die erste Klimaklage aus Deutschland ist in Straßburg gelandet – wie es in dem Verfahren weitergeht, steht allerdings noch nicht fest.
1/7: Vorläufige Maßnahme gegen Russland im Ukraine-Krieg
Es kommt nicht häufig vor, dass der EGMR vorläufige Maßnahmen nach Art. 39 der Verfahrensordnung der EMRK erlässt. Eilmaßnahmen kommen nur dann in Betracht, wenn die unmittelbare Gefahr eines nicht wiedergutzumachenden Schadens droht. In der Praxis geht es meist um Fälle, in denen der Beschwerdeführende sich gegen seine Ausweisung bzw. Abschiebung wendet.
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist beispiellos in der jüngeren Geschichte Europas – und aus dem Grund hat der EGMR bereits kurz nach Kriegsbeginn auf Antrag der Ukraine eine vorläufige Maßnahme gegen Russland erlassen. Demnach soll Russland Angriffe auf die Zivilbevölkerung und auf zivile Ziele wie Wohnorte, Schulen und Krankenhäuser unterlassen. Russland zeigte sich davon unbeeindruckt, der Krieg mit auch vielen zivilen Opfern dauert weiter an. Welche Konsequenzen das für den Stellenwert des Völkerrechts hat, hat PD Dr. Felix Lange skizziert.
2/7: Push-Backs nach "March of Hope" waren rechtmäßig
Im März 2016 waren rund 1.500 Flüchtlinge vom überfüllten Flüchtlingslager Idomeni in Griechenland weiter nach Nordmazedonien gelaufen. Die Aktion war als "March of Hope" bekannt geworden. Kurz hinter der Grenze hatten nordmazedonische Beamten die Menschen abgefangen und zurück nach Griechenland gebracht. Acht Beschwerdeführende hatten sich, unterstützt von Pro Asyl und dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), an den EGMR gewendet. Dieser hat entschieden, dass diese massenhaften Push-Backs rechtmäßig waren.
Artikel 4 4. Zusatzprotokoll der EMRK verbietet zwar Kollektivausweisungen von Individuen ohne die Bewertung der Umstände jedes Einzelfalls. Allerdings sei hier keine individuelle Prüfung der Situation der Geflüchteten möglich gewesen, so der EGMR. Diese seien illegal eingereist und hätten keine Asylanträge gestellt.
Diese Entscheidung stieß auf harsche Kritik. "Der Gerichtshof ignoriert die damaligen tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze ebenso wie die Tatsache, dass es monatelang gänzlich unmöglich war, irgendwo in Nordmazedonien Asyl zu beantragen", kommentierte Hanaa Hakiki, Senior Legal Advisor beim ECCHR.
3/7: EGMR stoppt Abschiebeflug nach Ruanda
Einen Abschiebeflug von England nach Ruanda hat der EGMR indes gestoppt. Mit diesem für Mitte Juni geplanten Flug wollte London seinen umstrittenen Ruanda-Pakt einläuten. Demnach sollten Schutzsuchende, die illegal nach Großbritannien gelangt sind, in den ostafrikanischen Staat gebracht werden – und dort gegen Zahlungen der britischen Regierung Asyl beantragen können. Eine Rückkehr nach Großbritannien ist nicht vorgesehen. Die Zahl der eingeplanten Passagiere hatte sich durch viele Einzelklagen bereits verringert, der EGMR untersagte den Flug schließlich ganz.
Die britische Regierung reagierte empört – und will sich nunmehr mit einem neuen Gesetz namens "Bill of Rights" über EGMR-Urteile hinwegsetzen können. Einen Austritt aus der EMRK strebt Großbritannien aber nicht an.
Menschenrechtsorganisationen zeigten sich alarmiert. Amnesty International UK beschrieb den Plan als "riesigen Rückschritt für die Rechte der einfachen Menschen."
Auch nach dem Abgang von Premierminister Boris Johnson will Großbritannien am Ruanda-Plan festhalten – und der britische High Court hat im Grundsatz grünes Licht für den umstrittenen Asylpakt gegeben. Allerdings müsse jeder Einzelfall genau geprüft werden. Die klagenden Flüchtlingsorganisationen werden das Urteil aber wahrscheinlich anfechten.
4/7: Beschwerde gegen Tarifeinheitsgesetz abgewiesen
Wie viele Tarifverträge können in einem Betrieb eines Unternehmens gelten? Bis Juli 2010 stand fest: nur einer. Den Grundsatz der Tarifeinheit hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) dann aber aufgegeben – und seitdem konnten in einem Betrieb unterschiedliche Tarifverträge konkurrierender Gewerkschaften angewendet werden. Danach kam es zu längeren Arbeitskampfmaßnahmen kleinerer Gewerkschaften wie der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL). Das war zwar zulässig, dennoch entstand den Unternehmen teilweise ein erheblicher wirtschaftlicher Schaden.
Deshalb machte der Gesetzgeber einen Rückzieher und führte das Prinzip der Tarifeinheit durch das "Tarifeinheitsgesetz" im Jahr 2015 wieder ein. Demnach soll in einem Unternehmen mit zwei Gewerkschaften nur der Tarifvertrag der mitgliederstärkeren Arbeitnehmervertretung angewendet werden. Kleinere Gewerkschaften sehen darin einen Verstoß gegen die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG) und erhoben Verfassungsbeschwerde. Das BVerfG hielt das Tarifeinheitsgesetz für im Wesentlichen mit dem GG vereinbar.
Auch vor dem EGMR sind die Gewerkschaften schließlich gescheitert. Die Straßburger Richterinnen und Richter sahen keinen Verstoß gegen die EMRK, schließlich hätten auch kleinere Gewerkschaften noch andere Rechte: Sie könnten etwa Tarifverhandlungen führen oder streiken.
5/7: Entschädigung für Überlebende des Bootsunglücks vor Farmakonisi
330.000 Euro muss Griechenland den Überlebenden sowie Angehörigen der beim Bootsunglück von Farmakonisi getöteten Geflüchteten zahlen. Der EGMR befand, die griechischen Behörden hätten das Recht auf Leben sowie das Verbot unmenschlicher Behandlung verletzt.
Im Januar 2014 war ein Fischerboot vor der Küste der griechischen Insel gesunken, elf Menschen starben. Ein Schiff der griechischen Küstenwache soll den Antragstellern zufolge mit hoher Geschwindigkeit gefahren sein, um die Geflüchteten zurück in türkische Gewässer zu drängen. Deshalb sei das Fischerboot gesunken. Die griechischen Behörden argumentierten dagegen – die Küstenwache hätte das Boot an Land ziehen wollen, dann sei es aber zu Panik gekommen.
Der EGMR gab den überlebenden Geflüchteten und Angehörigen Recht. Er sei zwar nicht in der Lage gewesen, zu beurteilen, ob tatsächlich Push-Backs stattgefunden hätten oder nicht – die griechischen Behörden hätten aber nicht gründlich genug ermittelt. Viele Fragen bleiben offen, etwa, wieso ein Notruf an alle umliegenden Schiffe erst zwölf Minuten nach dem Kentern des Fischerbootes gesendet wurde. Jedenfalls habe Griechenland nicht alles getan, was erwartet werden konnte, so der EGMR.
6/7: Verantwortung der EU-Staaten für ihre IS-Anhänger
Insgesamt haben sich schätzungsweise rund 5.000 Menschen aus Westeuropa dem sogenannten Islamischen Staat (IS) angeschlossen, darunter auch Tausende Frauen. Vor allem in den Jahren 2014 und 2015 waren sie nach Syrien und in den Irak ausgereist. Jetzt sitzen viele, einige mit ihren kleinen Kindern, in kurdischen Lagern in Nordsyrien fest – und wollen zurück. Der EGMR hat in einer Grundsatzentscheidung geurteilt, dass die IS-Anhängerinnen zwar keinen Anspruch darauf haben, in europäische Staaten zurückgeholt zu werden. Dennoch haben die Staaten eine rechtliche Verantwortung für ihre europäischen Staatsbürgerinnen auch in Nordsyrien, die sich "in einer Art diplomatischem und rechtlichem Niemandsland" befinden.
Hilfsorganisationen beschreiben die humanitäre Situation in den Lagern als "kritisch", NGOs sprechen von "Europas Guantanamo". Deshalb wollten zwei Großelternpaare aus Frankreich ihre Töchter und Enkelkinder aus Syrien zurückholen und klagten bis vor den EGMR. Dieser sah zwar in der bloßen Nicht-Rückführung keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und damit keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK. Allerdings darf nach einer Regelung im Zusatzprotokoll 4 auch niemand daran gehindert werden, in das Hoheitsgebiet seines Heimatlandes einzureisen. Daraus leitet der EGMR ab, dass Staaten zumindest eine ausreichende rechtsstaatliche Möglichkeit dafür vorsehen müssen, dass Verwaltung und Gerichte den konkreten Rückholfall willkürfrei entscheiden.
Frankreich muss die Fälle jetzt neu bewerten und entscheiden – und auch für Deutschland wird die Entscheidung Auswirkungen haben. Rund 1.150 Personen sind seit 2011 aus Deutschland zum IS ausgereist, ein Viertel davon waren Frauen. Zurückgekehrt sind bislang 90 (Stand September 2022) – und Deutschland hat auch in Rückholaktionen ganze Gruppen von Müttern und Kindern nach Deutschland gebracht. Einige IS-Rückkehrerinnen wurden bereits verurteilt, u.a. wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Verbrechens gegen die Menschlichkeit.
Die Entscheidung des EGMR hat in jedem Fall verdeutlicht, dass auch Deutschland eine Verantwortung trägt für seine Staatsangehörigen, die sich in den Camps in Syrien befinden. Das rechtliche Schicksal der ausgereisten Männer bleibt hingegen weiter völlig ungeklärt.
7/7: Deutschland hat Racial-Profiling-Vorwurf nicht ausreichend geprüft
Um den Vorwurf des Racial Profilings ging es im letzten Urteil dieses Rückblicks. Biplab Basu setzt sich seit vielen Jahren in Berlin gegen rassistische Polizeigewalt ein – und gibt an, im Jahr 2012 selbst Opfer von Racial Profiling geworden zu sein. Er war gemeinsam mit seiner Tochter im Zug unterwegs und wurde kurz hinter der Grenze zu Tschechien auf deutschem Boden von der Polizei kontrolliert – seinen Angaben zufolge als einzige. Beide sollen die einzigen Nicht-Weißen in diesem Abschnitt des Zuges gewesen sein.
War das Racial Profiling? Der EGMR ist der Ansicht, dass Deutschland den Vorwurf nicht ausreichend geprüft hat. Zumindest hätte Deutschland prüfen müssen, ob es eine Verbindung zu möglichen rassistischen Einstellungen des betreffenden Polizeibeamten gegeben habe.
Sollte man kennen: Sieben wichtige EGMR-Entscheidungen 2022 . In: Legal Tribune Online, 31.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50559/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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