Sollte man kennen: Sieben wich­tige EGMR-Ent­schei­dungen 2022

von Dr. Franziska Kring

31.12.2022

6/7: Verantwortung der EU-Staaten für ihre IS-Anhänger

Insgesamt haben sich schätzungsweise rund 5.000 Menschen aus Westeuropa dem sogenannten Islamischen Staat (IS) angeschlossen, darunter auch Tausende Frauen. Vor allem in den Jahren 2014 und 2015 waren sie nach Syrien und in den Irak ausgereist. Jetzt sitzen viele, einige mit ihren kleinen Kindern, in kurdischen Lagern in Nordsyrien fest – und wollen zurück. Der EGMR hat in einer Grundsatzentscheidung geurteilt, dass die IS-Anhängerinnen zwar keinen Anspruch darauf haben, in europäische Staaten zurückgeholt zu werden. Dennoch haben die Staaten eine rechtliche Verantwortung für ihre europäischen Staatsbürgerinnen auch in Nordsyrien, die sich "in einer Art diplomatischem und rechtlichem Niemandsland" befinden.

Hilfsorganisationen beschreiben die humanitäre Situation in den Lagern als "kritisch", NGOs sprechen von "Europas Guantanamo". Deshalb wollten zwei Großelternpaare aus Frankreich ihre Töchter und Enkelkinder aus Syrien zurückholen und klagten bis vor den EGMR. Dieser sah zwar in der bloßen Nicht-Rückführung keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und damit keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK. Allerdings darf nach einer Regelung im Zusatzprotokoll 4 auch niemand daran gehindert werden, in das Hoheitsgebiet seines Heimatlandes einzureisen. Daraus leitet der EGMR ab, dass Staaten zumindest eine ausreichende rechtsstaatliche Möglichkeit dafür vorsehen müssen, dass Verwaltung und Gerichte den konkreten Rückholfall willkürfrei entscheiden.

Frankreich muss die Fälle jetzt neu bewerten und entscheiden – und auch für Deutschland wird die Entscheidung Auswirkungen haben. Rund 1.150 Personen sind seit 2011 aus Deutschland zum IS ausgereist, ein Viertel davon waren Frauen. Zurückgekehrt sind bislang 90 (Stand September 2022) – und Deutschland hat auch in Rückholaktionen ganze Gruppen von Müttern und Kindern nach Deutschland gebracht. Einige IS-Rückkehrerinnen wurden bereits verurteilt, u.a. wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Verbrechens gegen die Menschlichkeit.

Die Entscheidung des EGMR hat in jedem Fall verdeutlicht, dass auch Deutschland eine Verantwortung trägt für seine Staatsangehörigen, die sich in den Camps in Syrien befinden. Das rechtliche Schicksal der ausgereisten Männer bleibt hingegen weiter völlig ungeklärt.

Zitiervorschlag

Sollte man kennen: Sieben wichtige EGMR-Entscheidungen 2022 . In: Legal Tribune Online, 31.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50559/ (abgerufen am: 18.04.2024 )

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