Die geplanten Änderungen stellen Opfer von Straftaten weiter in den Fokus. Dabei darf man jedoch den Ausgleich zwischen Zeugen- und Beschuldigtenrechten, Wahrheitsfindung und Rechtsstaatlichkeit nicht vernachlässigen, mahnt Robert Esser.
Der Deutsche Bundestag hat am 3. Dezember 2015 ein 3. Opferrechtsreformgesetz (OpferRRG) beschlossen (BR-Dr 591/15), das aufgrund des parteiübergreifenden Konsenses auch den Bundesrat am Freitag ohne Aufsehen passieren dürfte. Die geplanten Änderungen der Strafprozessordnung (StPO) sollen unter anderem die Informations- und Mitwirkungsrechte der Opfer einer Straftat sowohl im Ermittlungsverfahren als auch in der gerichtlichen Hauptverhandlung stärken und ihnen psychosoziale Hilfe gewähren.
Den Anstoß für die im April 2015 durch die Bundesregierung gestartete Gesetzesinitiative (BT-Drs. 18/4621) gab in erster Linie die sog. Opferschutzrichtlinie der Europäischen Union (2012/29/EU), die eigentlich schon bis zum 16. November 2015 hätte umgesetzt werden müssen.
Es ist zu begrüßen, dass sich die Europäische Union neben der sektoralen Harmonisierung von Beschuldigtenrechten nun seit ein paar Jahren auch der Harmonisierung von Opferrechten widmet. Es fehlt allerdings noch eine neue Richtlinie zum ebenso kosten- wie streitträchtigsten Aspekt, der Opferentschädigung.
Interessensausgleich im Strafverfahren – eine schwierige Angelegenheit
Mit ihren Vorstellungen für ein 3. OpferRRG fügt die Regierung sich nahtlos ein in die Reihe der kaum mehr überschaubaren Gesetzesinitiativen zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren seit Mitte der 1970er Jahre. Damit wurden über Jahrzehnte aufgelaufene Defizite in diesem Bereich ausgeglichen, bisweilen sogar überkompensiert. Dass Verletzte Akteneinsichtsgesuche stellen, mit anwaltlichem Beistand als Nebenkläger auftreten oder finanzielle Ansprüche in Adhäsionsverfahren geltend machen, gehört heute zum Alltag vor deutschen Strafgerichten.
Ins Bewusstsein gerufen sei an dieser Stelle: Ein "Opfer" im Strafverfahren ist ein mutmaßliches Opfer, solange die Unschuldsvermutung für den mutmaßlichen "Täter", den zu diesem Zeitpunkt eben nur Angeklagten, streitet. Genau die mit diesem Verfahrensstatus der Beteiligten verbundenen Unsicherheiten machen es nicht nur dem Gesetzgeber, sondern auch und vor allem den Gerichten häufig schwer, die durch das Verfahren aufgeworfenen, höchst unterschiedlichen Interessen der Beteiligten zu einem gerechten Ausgleich zu bringen.
Während ein Strafverfahren für den Beschuldigten meist mit einer existenzbedrohenden Wirkung verbunden ist, geht es dem Opfer um Genugtuung, oder eine Form der ideellen Wiedergutmachung – und manchmal auch um einen finanziellen Ausgleich für die Verletzung seines Persönlichkeitsrechtes, seiner Gesundheit oder seiner Ehre.
Wer seine Rechte kennt, gebraucht sie auch
Da die derzeitige Rechtslage in Deutschland in vielen Punkten bereits den umzusetzenden internationalen Rahmenbedingungen entspricht, besteht in der StPO lediglich punktueller Anpassungsbedarf.
Künftig sind die einen Opferzeugen betreffenden Verhandlungen, Vernehmungen und sonstigen Untersuchungshandlungen stets unter Berücksichtigung seiner besonderen Schutzbedürftigkeit durchzuführen, § 48 Abs. 3 S. 1 im Entwurf der StPO (StPO-E). Das wird zwar auch jetzt schon praktiziert, ist nun aber verbindliche gesetzliche Leitlinie und wird die in anderen Normen der StPO angelegten Beurteilungsspielräume prägen. Zu prüfen ist dabei insbesondere, ob eine Vernehmung des Zeugen in Abwesenheit etwa des Angeklagten, § 168e StPO, bzw. eine audiovisuelle Vernehmung, § 247a StPO, oder ein Ausschluss der Öffentlichkeit von der Teilnahme an der Hauptverhandlung, § 171b Abs. 1 GVG, geboten sind, und inwieweit auf Fragen zum persönlichen Lebensbereich des Zeugen verzichtet werden kann, § 48 Abs. 3 S. 2 StPO-E.
Außerdem werden die Informations- und Unterrichtungspflichten der Strafverfolgungsbehörden gegenüber Opfern ausgeweitet. Künftig soll der Verletzte auf Antrag eine schriftliche Bestätigung des Eingangs seiner Strafanzeige erhalten, § 158 Abs. 1 StPO-E. Zudem werden die Informationsrechte des Verletzten aus § 406d StPO zum Stand des Verfahrens partiell erweitert. Diverse Hinweispflichten werden in §§ 406i bis 406k StPO-E neu strukturiert, wobei offen bleibt, wer den Verletzten "möglichst frühzeitig" über die dort genannten Rechte informieren soll. Schließlich wir ein Anspruch des Opfers auf bestimmte Dolmetscher- und Übersetzungsleistungen festgeschrieben.
Diese Änderungen werden, wie schon z.B. die Opferrechtsreformen von 1986, 2004 und 2009, den Ablauf vieler Strafverfahren und damit auch die Arbeitsbelastung der Strafjustiz in qualitativer und quantitativer Hinsicht nachhaltig beeinflussen. Denn wer seine Rechte kennt, wird tendenziell auch verstärkt von ihnen Gebrauch machen.
2/2: Psychosoziale Prozessbegleitung birgt Probleme
Mit dem 3. OpferRRG will der Gesetzgeber schließlich auch die sog. psychosoziale Prozessbegleitung in der StPO stärker verankern. Bislang wird das mutmaßliche Opfer auf diese Möglichkeit lediglich abstrakt hingewiesen, vgl. § 406h S. 1 Nr. 5 StPO. Ab dem 1. Januar 2017 garantiert § 406 Abs. 1 StPO-E ein solches Recht auf Beistand für den Verletzten und ein korrespondierendes Anwesenheitsrecht des psychologischen Prozessbegleiters bei Vernehmungen im Ermittlungsverfahren und während der Hauptverhandlung. Mutmaßlichen Opfern schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten räumt das Gesetz zukünftig sogar einen Rechtsanspruch auf die für sie kostenfreie Beiordnung eines solchen Begleiters ein, § 406g Abs. 3 S. 1, 3 StPO-E.
Die Bundesregierung verfolgt damit das Ziel, die individuelle Belastung der Verletzten zu reduzieren, ihre "Sekundärviktimisierung" zu vermeiden und ihre Aussagetüchtigkeit zu fördern, so die Gesetzesbegründung hierzu. Dass diese Motive es am Ende allerdings nicht in die neue Fassung der StPO sondern nur in das Begleitgesetz (PsychPbG) geschafft haben, lässt die praktischen Probleme bereits erahnen.
Gerade die gesetzliche Aufwertung und damit sicher auch verbundene quantitative Ausweitung dieser speziellen Form psychosozialer Unterstützung für Zeugen dürfte die Anforderungen an die Arbeit der Strafjustiz – und der Strafverteidigung – künftig eher steigern als mindern. Zum einen bleibt zu hoffen, dass entsprechend qualifiziertes Fachpersonal in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen wird.
Zum anderen darf aus psychosozialer "Begleitung" keine Rechtsberatung im engeren Sinne werden, d.h. etwa Empfehlungen zum Aussageverhalten in der Sache mit umfassen: die Aussage- und Wahrheitspflicht des Zeugen bleibt unberührt. Diese Form der "Begleitung" und "Beratung" des Zeugen obliegt weiterhin dem Vernehmungsbeamten bzw. dem Gericht. Wo genau die Trennlinie verläuft, kann im Einzelfall schwierig zu entscheiden sein.
Der Strafverteidiger denkt bei einer "Prozessbegleitung" des Zeugen unweigerlich an die damit zwangsläufig verbundene Gefahr einer Beschränkung des Konfrontationsrechts, Art. 6 Abs. 3 lit. d der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Es wird gerade an diesem heiklen Punkt die Aufgabe der Strafgerichte sein, die nicht selten gegenläufigen Interessen der unter erheblichem Druck stehenden zentralen Protagonisten in Einklang zu bringen.
Den in den letzten Jahren offen zu Tage getretenen Zielkonflikt zwischen Beschuldigten- und Opferrechten dürfte das 3. OpferRRG durch die Aufwertung der psychosozialen Prozessbegleitung von Zeugen jedenfalls weiter verschärfen.
Der Strafprozess darf nicht in Schieflage geraten
Einmal mehr stellt sich daher die Frage: Welchen Zweck verfolgt der Strafprozess künftig? Soll eine an rechtsstaatlichen Maßstäben orientierte Wahrheitssuche und die Feststellung der Schuld bzw. Unschuld des Angeklagten jenseits berechtigter Zweifel weiterhin das Leitmotiv bleiben?
Dann ist die Einbeziehung von Opferinteressen ab einem bestimmten Maß jedenfalls nicht mehr zielführend, manchmal sogar schädlich. Wie jeder Mensch verfolgen auch die Opfer von Straftaten in einem Strafprozess mitunter höchst persönliche Ziele, die nicht immer mit dem bislang den Strafprozess dominierenden Motiv der (Un-)Schuldfeststellung und prozessualen Wahrheitsfindung harmonieren. Sehr deutlich wird dies in Großverfahren wie etwa dem NSU-Prozess, der durch die vielen Nebenkläger nebst Beiständen zu einem auf Jahre angelegten "Untersuchungsausschuss" mutiert. Dafür ist der Strafprozess aber weder gedacht noch geeignet.
Als Korrektiv für die Ausweitung des Opferschutzes in den letzten Jahren wird es zugleich dringlicher, auch Beschuldigtenstandards qualitativ aufzuwerten, sowohl im Ermittlungsverfahren – etwa bei der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung – als auch in der Hauptverhandlung. Das Rechtsstaatsprinzip bedingt es, dass viele Fragen, an deren Klärung das Opfer einer Straftat ein durchaus nachvollziehbares Interesse hat, unbeantwortet bleiben (müssen). Denn sonst droht das Strafverfahren wieder in eine Schieflage zu geraten. Dieser Befund war seit den 1980er Jahren in umgekehrter Richtung gerade Anlass für eine schrittweise Ausweitung des Opferschutzes.
Eine vom BMJV eingesetzte Expertenkommission, deren Mitglied der Verfasser war und deren Bericht seit dem 13. Oktober 2015 vorliegt, hat bereits konkrete Vorschläge für eine weitreichende Reform des deutschen Strafprozesses unterbreitet, die dem Beschuldigten- und Opferschutz gleichermaßen Rechnung tragen und nun ebenfalls zügig umgesetzt werden sollten.
Prof. Dr. Robert Esser ist Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht und Strafprozessrecht sowie Wirtschaftsstrafrecht an der Universität Passau und Leiter der dortigen Forschungsstelle Human Rights in Criminal Proceedings (HRCP).
Prof. Dr. Robert Esser, Drittes Opferrechtsreformgesetz: Gerät der Strafprozess in eine Schieflage? . In: Legal Tribune Online, 14.12.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17846/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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