Die Mehrstaatlichkeit wird endlich Realität. In Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern müssen sich künftig nicht mehr entscheiden, welchen Pass sie führen wollen. Ein wichtiger Schritt in der Integrationspolitik, finden Seyran Ateş, Gülay Bedir und Charlotte Steiling. Doch es fehlt eine Übergangsregelung für diejenigen, die sich "zu schnell" entschieden haben.
Am Samstag, den 20. Dezember 2014, tritt das zweite Gesetz zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts (StAG n.F.) in Kraft. Bislang mussten sich nach dem 1. Januar 1990 in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres zwischen der deutschen und der Staatsangehörigkeit ihrer Eltern entscheiden. Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, soll diese sogenannte Optionspflicht nun wegfallen.
Mehrheitlich Deutsch-Türken werden von der neuen Rechtslage profitieren. Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union und der Schweiz waren schon vorher nicht verpflichtet, zu wählen. Andere Staaten wie zum Beispiel Marokko, Iran oder Algerien dulden keine Ausbürgerung, weshalb Betroffenen auf Antrag die doppelte Staatsangehörigkeit gewährt wird, wenn die Voraussetzungen für die deutsche Staatsbürgerschaft vorliegen.
Das neue Gesetz ist der konsequente nächste Schritt auf dem Weg zu einem echten Einwanderungsland, in dem Menschen sich mit Deutschland, aber auch dem Heimatland ihrer Eltern gleichermaßen identifizieren. Integrationspolitik alleine reicht jedoch nicht – sie muss auch in der Gesellschaft Fuß fassen.
Deutscher ist, wer deutsche Eltern hat
Deutscher ist, wer Kind deutscher Eltern ist. Seit dem 1914 in Kraft getretenen Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz galt in Deutschland grundsätzlich das Abstammungsprinzip. Plastischer ausgedrückt: das Recht des Blutes, "ius sanguinis".
Die Regierung Schröder sah integrationspolitischen Handlungsbedarf und änderte das Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) im Jahr 2000. Nach neuem Recht erhielten nun in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit mit der Geburt.
Doch diese nach dem "ius soli" erworbene Staatsangehörigkeit des Geburtsortes hatte gegenüber der Nationalität der "Urdeutschen" einen entscheidenden Makel: Denn um Mehrstaatlichkeit zu vermeiden, führte man die Optionspflicht ein. Damit wurden die betroffenen Personen verpflichtet, eine offizielle Zugehörigkeit zu wählen, um dadurch automatisch die andere zu verlieren. Nur wenn man sich gegen die elterliche Staatsbürgerschaft entschied, durfte man die deutsche behalten. Manche Stimmen hielten eine solche "Staatsangehörigkeit zweiter Klasse" sogar für verfassungswidrig.
Deutscher bleibt, wer hier geboren und aufgewachsen ist
Das Thema kam, auf Drängen der SPD, mit dem Koalitionsvertrag 2013 wieder auf den Tisch. SPD und CDU/CSU einigten sich darauf, die Mehrstaatlichkeit nun doch zu akzeptieren. Zumindest für in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern sollte der Entscheidungszwang zukünftig entfallen.
Tatsächlich wird dies ab Samstag in weiten Teilen der Fall sein. Es genügt der Nachweis, in Deutschland aufgewachsen zu sein. Der Gesetzgeber legt in § 29 Abs. 1a, 5 StAG n.F. genau fest, wie dieser zu führen ist: Wer bis zur Vollendung seines 21. Lebensjahres acht Jahre in Deutschland gelebt hat, sechs Jahre hier zur Schule gegangen ist oder einen Schulabschluss bzw. eine abgeschlossene Berufsausbildung erworben hat, erfüllt die Voraussetzungen. Kritiker sind jedoch der Ansicht, solch ein Nachweis sei überflüssig und wäre der Beweis dafür, dass weiterhin Hürden aufgebaut werden, um Einbürgerungen zu erschweren.
Die Optionspflicht gehört jedoch noch nicht gänzlich der Vergangenheit an. Sie obliegt weiterhin denjenigen, die nicht in Deutschland aufgewachsen sind, wie § 29 Abs. 1 StAG n.F. direkt am Anfang klarstellt.
2/2: Deutscher war, wer sich dagegen entschieden hat
Offen bleibt, ob diejenigen, die sich aufgrund ihrer Optionspflicht bereits für einen Pass entschieden haben und eine ihrer Staatsangehörigkeiten verloren haben, diese nun wiedererlangen können. Wären sie nicht so entscheidungsfreudig gewesen und hätten bislang von ihrer Optionspflicht keinen Gebrauch gemacht, so könnten sie nach der neuen Rechtslage die doppelte Staatsangehörigkeit einfach behalten.
Wo doch normalerweise der frühe Vogel den Wurm fängt, wird er hier bestraft. Denn er wird vom Gesetzgeber ungleich derer behandelt, die ihre Entscheidung noch nicht getroffen haben. Das neue StAG unterscheidet nicht danach, wie sich die Betroffenen zuvor entschieden haben, sondern setzt zukunftsbezogen Konsequenzen, geknüpft an den Status Quo fest, der besteht, weil sie sich entschieden haben.
Für die Entscheidungsfreudigeren verbleibt mangels einer ausdrücklichen Regelung in der Gesetzesänderung nur eine Möglichkeit: Die zuständigen Behörden könnten ihr in §§ 8, 13 und 25 Abs. 2 StAG vorgesehenes Ermessen zu Gunsten der Betroffenen ausüben. Sie könnten so ihre verlorene Staatsangehörigkeit wieder zurückerlangen, ohne ihre jetzige zu verlieren. Ob das tatsächlich so geschehen wird, steht bedauerlicherweise noch in den Sternen.
Mehrstaatlichkeit bildet transkulturelle Identitäten ab
Bereits für die Rot-Grüne Koalition hätte 2000 schon gelten müssen: Wer A sagt, muss auch B sagen. Wenn sich der deutsche Staat entscheidet, in Deutschland geborenen Kindern ausländischer Eltern den deutschen Pass zu verleihen, dann bitte auch unterschiedslos zu den "Urdeutschen". Das neue Änderungsgesetz führt in dieser Hinsicht allemal zu einer deutlichen Verbesserung und trägt der Tatsache Rechnung, dass sich Deutschland zu einem echten Einwanderungsland hin entwickelt.
Es erspart vielen jungen Leuten das schmerzhafte Kopfzerbrechen über ihre Zugehörigkeit und die daraus resultierenden Identitäts- sowie Loyalitätskonflikte werden nicht mehr künstlich geschürt. Schließlich haben sich auch unter den Deutsch-Türken transkulturelle Identitäten gebildet, die sich nicht für die eine oder andere Nationalität entscheiden wollen, weil sie eben beides sind und beides leben. Die Mehrstaatlichkeit ist so gesehen das Abbild ihrer Identität.
Integrationspolitisch ist das neue Gesetz also allemal sinnvoll. Bleibt nur noch, die gesellschaftliche Akzeptanz zu fördern und mehrstaatliche Identität unter anderem auch als positiven Ausdruck der Globalisierung zu begreifen. Sie sollte als Chance auf einen Ausweg aus dem engen nationalistischen Denken gesehen werden.
Eine Übergangsregelung für diejenigen, die sich "zu schnell" entschieden haben, wäre nicht nur wünschenswert, sondern aus juristischer und integrationspolitischer Sicht notwendig gewesen. Warum dies unterblieben ist, ist nicht nachvollziehbar. Manche Dinge bleiben ein Geheimnis der Politik.
Seyran Ateş ist Anwältin für Familien- und Strafrecht in Berlin. Anfang März erschien ihr Buch "Wahlheimat".
Gülay Bedir, LL.M. und Charlotte Steiling, LL.M. absolvieren derzeit als Rechtsreferendarinnen ihre Anwaltsstage in der Kanzlei Ateş.
Frau Bedir hat vor einigen Monaten, als sie feststellte, dass sie nicht vom Anwendungsbereich des Gesetzesentwurfes erfasst ist, die Ausbürgerung aus der türkischen Staatsangehörigkeit beantragt und wartet momentan auf ihre deutsche Einbürgerungsurkunde.
Seyran Ateş, Gülay Bedir, LL.M. und Charlotte Steiling, LL.M., Neues Staatsangehörigkeitsgesetz : Deutscher kann sein, wer auch Türke ist . In: Legal Tribune Online, 19.12.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14177/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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