Migration sei normal, sie müsse nur gesteuert werden: Dabei helfen könnten sinnvolle Aufenthaltstitel, mehr Zuständigkeiten der Kommunen und eine fachkundige Stelle für die Einschätzung der Gefahrenlagen, meint Winfried Kluth.
LTO: Herr Professor Kluth, Sie sind beim Deutschen Juristentag Gutachter zum Thema Migration. Dort sprechen Sie von "Migration als Normalbefund gesellschaftlicher Entwicklung". Was verstehen Sie darunter?
Professor Dr. Winfried Kluth: In einer etwas weiter gefassten historischen Perspektive kommt Migration in nahezu allen Gesellschaften immer wieder vor. Das gilt für Deutschland, Europa und weltweit mit Ausnahme weniger Staaten, die sich systematisch abschotten. Es ist also ein Vorgang, mit dem eine Gesellschaft ständig zu tun hat. Nur der Umfang der Migration unterliegt natürlich erheblichen Schwankungen.
Breite Teile der Gesellschaft reagieren auf die Themen Flüchtlinge und Migration derzeit allerdings höchst angespannt. Was kann das Recht leisten, um das zu ändern?
Diese Aussage zur Normalität der Migration in meinem Gutachten soll darauf hinweisen, dass unsere Eigenwahrnehmung unzutreffend ist. Deutschland gehört weltweit zu den fünf entwickelten Ländern mit den meisten Migranten. Wir tun aber so, als wäre das Gegenteil der Fall. Es wäre also die Aufgabe nicht nur der Rechtswissenschaft, sondern eines jeden Wissenschaftlers, auf diese Rahmenbedingungen hinzuweisen und dann auch seine weiteren Schlüsse und Wertungen auf diese Grundlage zu stellen.
Die Rechtwissenschaft kann indirekt zu einer besseren Eigenwahrnehmung beitragen, indem sie diesen Befund selbst auch immer wieder erwähnt und nicht so tut, als wenn in unserer gesellschaftlichen Entwicklung Migration die Ausnahme gewesen wäre.
"Migration in die Kommunen"
Welche Änderungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht halten Sie für notwendig, um eine für möglichst alle Beteiligten sinnvolle Migration zu erreichen?
Ich halte es für essentiell, die Zuständigkeiten neu zu regeln und den Kommunen mehr Gestaltungsspielräume zu schaffen und alle nach dem Asylverfahren aufkommenden Themen auf die dezentral aufgestellte Bundesagentur für Arbeit zu verlegen. Die lokalen Jobcenter wären viel eher in der Lage, die Migration zu steuern. Die Erfahrung haben sie auch, denn rund 40 Prozent der Kunden der Bundesagentur sind bereits Menschen mit Migrationshintergrund.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat hingegen nur wenige Außenstellen und ist zentral aufgestellt. Das BAMF ist viel zu weit weg, um Rahmenbedingungen zu ändern.
Gegen diesen Vorschlag stehen indes Ressortinteressen, weil das BAMF beim Innenministerium aufgehängt ist, die Arbeitsagentur beim Arbeitsministerium. Gewichtige Gegenargumente in der Sache habe ich dazu aber noch nicht gehört.
Regelungschaos im AufenthG
Mehr Gestaltungsspielräume wünschen Sie sich auch für Ausbildungsduldung. Was würden Sie anders machen?
Aufenthaltstitel sollten nach Zweck und Titel differenzieren. Derzeit aber stehen zu viele Titel nicht abgestimmt nebeneinander. So hat die Ausbildungsduldung nach § 60a Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) mit dem ursprünglichen Zweck der Duldung nichts zu tun. Denn Duldung bedeutet nach § 60 Abs. 1 AufenthG ja nur, dass die Abschiebung für einen kurzen Zeitraum ausgesetzt wird, das Gesetz spricht von längstens drei Monaten.
Bei der Ausbildungsduldung hingegen geht es um mehrere Jahre der Ausbildung. Darüber hängt jetzt aber das Damoklesschwert der drohenden Abschiebung, was in der Praxis Arbeitgeber davon abhält, Ausbildungsplätze anzubieten. Denn zum einen ist im Gesetz die Ausnahme formuliert, dass für die Erteilung der Ausbildungsduldung "konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung nicht bevorstehen" dürfen. Außerdem muss mit der Abschiebung nach Beendigung der Ausbildung gerechnet werden. Es ist aber wenig sinnvoll für Betriebe, ihre gerade ausgebildeten Fachkräfte zu verlieren.
Die Regelung zur Ausbildung gehört also in den Kontext der Beschäftigungstitel nach §§ 18 ff. AufenthG, die auch den langfristigen Aufenthalt zur Arbeitsaufnahme in Deutschland vorsehen. Diese Einordnung würde den gesamten Charakter der Maßnahme ändern und so auch die Probleme in der Anwendung lösen.
"Jeder Richter entscheidet eigenständig"
Sie haben noch mehr Ideen für das Asylrecht, etwa die Einrichtung einer wissenschaftlichen Stelle auf Bundesebene, um die Einschätzung der Gefahrenlage in den Herkunfts und Zielstaaten vorzunehmen.
Die Idee ist tatsächlich, eine Einrichtung zu schaffen, deren Feststellungen die Behörden und Gerichte als Grundlage für ihre Entscheidungen nehmen können und sollten. Das knüpft an ein Modell an, das wir im Gesundheitsrecht bereits mit zwei unabhängigen wissenschaftlichen Einrichtungen haben.
Im Augenblick macht jeder Richter, was er kann und was er will. Jeder einzelne sucht sich mühsam Informationen über Herkunftsländer zusammen, um die Gefahren in dem jeweiligen Land beurteilen zu können. Die Juristen recherchieren mit hohem Zeitaufwand im Internet, lesen die Lageberichte des Auswärtigen Amtes (AA) oder der Nicht-Regierungsorganisationen. Aus all dem machen sie sich ihr eigenes Bild.
Juristen sind aber für solche Gefahreneinschätzungen einfach nicht gründlich ausgebildet und es hängt vom einzelnen Richter ab, ob er sich diese zusätzlich Expertise beschafft. Davon sollte aber die Qualität einer existenziellen Entscheidung nicht abhängen.
Mit einer zentralen Stelle könnten die Gefahreneinschätzungen auf ein einheitliches, höheres Niveau gestellt werden und zudem transparent und unabhängig zustande kommen, um so eine Vereinheitlichung der Entscheidungsgrundlagen zu erreichen. Das würde die Gerichte auch von den mühsamen Recherchen entlasten.
Das Ende des unabhängigen Richters?
Griffe eine solche Einrichtung nicht in die Befugnisse der unabhängigen Richter ein?
Nein, denn man benötigt für die Umsetzung keine gesetzliche Bindungswirkung. Der Richter müsste sich mit der Einschätzung durch die Zentralstelle befassen. Will ein Richter dieser Einschätzung nicht folgen, so muss er eine mindestens gleich gute abweichende Stellungnahme zugrunde legen können, um von der Gefahreneinschätzung durch die Zentralstelle abzuweichen. Vor allem aber rechne ich mit einer größeren Akzeptanz der Bewertungen, denn in dieser Einrichtung sollten auch erfahrene Praktiker und Richter mitwirken, die auf Transparenz und Einheitlichkeit hinwirken.
Wo sehen Sie den Unterschied zu den Berichten des Auswärtigen Amtes (AA)?
Die Attachés des AA sind für solche Berichte genau so wenig fachwissenschaftlich ausgebildet wie die im Inland zuständigen Juristen und sie wechseln zudem regelmäßig ihre Länder-Zuständigkeiten. Außerdem fehlt es an Transparenz, denn die Berichte des AA sind Regierungsberichte, die Quellen sind unbekannt, die Methodik des Zustandekommens ist nicht nachvollziehbar - darunter leidet entsprechend auch die Akzeptanz der Lageberichte.
Die AA-Berichte stehen zudem oft im Widerspruch zu Erkenntnissen von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen. Der Richter aber kann sich aussuchen, welcher Ansicht er sich anschließen möchte. Das ist keine gute Grundlage für so weitreichende Entscheidungen.
Welche Reaktionen Ihrer Kollegen erwarten Sie sich auf dem DJT?
Beim Juristentag trifft eine bunte Mischung an Juristen aufeinander und man weiß ja nicht, wer alles vor Ort sein wird. Die Richterschaft bevorzugt etwas das Modell, dass etwa anstelle einer zentralen Einrichtung das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) als Revisionsinstanz Leitentscheidungen fällen soll. Im Vorfeld habe ich für Vorschläge also auch schon Kritik geerntet - ich bin also gespannt.
Herr Kluth, vielen Dank für das Gespräch.
DJT-Gutachter zum Thema Migration: . In: Legal Tribune Online, 26.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31143 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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