Sanierungsbedürftiges Schmerzensgeldrecht: Das Tabu, für erlit­tenes Leid Geld zu for­dern

von Renate Mikus

21.02.2022

Beim Schmerzensgeld tun sich die deutschen Gerichte schwer - im internationalen Vergleich und auch zum Ersatz materieller Schäden. Urteile sind oft schwer vorhersehbar. Renate Mikus sucht dafür Gründe und Korrekturansätze.

Anders als in den für lukrative Kaffeeunfälle bekannten USA neigen deutsche Gerichte beim Schmerzensgeld nicht zum Überschwang. Das gilt selbst für massivste Verletzungsfolgen. Deutsches Recht, mit seiner starken Ausrichtung auf materielle Werte, tut sich schwer, auf körperliche oder gar seelische Verletzungen mit hohen Entschädigungen zu reagieren. Ihm fehlt schon rechtsgeschichtlich der einfache Zugang dazu, Nichtvermögensschäden zu entschädigen.

Am greifbarsten war dieses Defizit bei der Entschädigung für das psychische Leid infolge des Todes naher Angehöriger. Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen und außereuropäischen Ländern existierte für Hinterbliebene lange kein Schmerzensgeldanspruch - es wurde geradezu als anstößig empfunden, einen menschlichen Verlust in Geld aufzuwiegen. Eine Zäsur erfuhr diese Haltung, die sich abgeschwächt durch das gesamte Schmerzensgeldrecht zog, nach einem vorsätzlich herbeigeführten Flugzeugabsturz: Dem der Germanwings-Maschine im Jahr 2015. Erst dieses Ereignis warf ein grelles Licht auf diese Besonderheit des deutschen Rechts – und wurde auch international als befremdlich empfunden.

Die in den Medien sichtbaren schweren Folgen des Flugzeugabsturzes schärften allerdings auch das nationale Bewusstsein und stießen eine Gesetzesänderung an: Die Einführung von § 844 Abs. 3 im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Seit Mitte 2017 gibt es für Hinterbliebene mit einem besonderen persönlichen Näheverhältnis Schmerzensgeld für das zugefügte seelische Leid. Vorher wurde lediglich ein durch das Miterleben des Todes eines engen Angehörigen verursachter eigener Körperschaden als Schmerzensgeldtatbestand anerkannt. Der BGH entschied das etwa im Falle eines Ehemanns, der den Tod seiner Ehefrau bei einem grauenhaften Motorradunfall optisch und akustisch miterleben musste und hierdurch Angststörungen erlitt.

"Tötung zum Nulltarif"

In einer Grundsatzentscheidung hatte der BGH im Jahr 1989 entschieden, dass Ansprüche auf eine Entschädigung für seelischen Schmerz nicht bestehen, soweit dieser nicht Auswirkung auf die eigene Gesundheit hat. Geldwerter Ausgleich für den Schmerz, einen nahen Angehörigen verloren zu haben, wurde als unangemessen angesehen. Die BGH-Richterin Angela Diedrichsen kritisierte diese Haltung im Jahr 2011: Diese "Tötung zum Nulltarif" sei besonders bei vorsätzlichem oder grob fahrlässigem Handeln des Schädigers schwer akzeptabel.

Doch es wurden höhere Versicherungsschäden gescheut und das Ausnutzen der Angehörigenposition befürchtet. Die Kostenschätzungen, die die Bundesregierung der Neuregelung von 2017 zu Grunde legte, tragen dieser Sorge mit einem Ansatz für eine durchschnittliche Hinterbliebenenentschädigung von jeweils ca. 10.000 Euro Rechnung. In deutlichem Kontrast dazu haben in Italien nahe Angehörige bei dem "Durchtrennen des Familienbandes" Ansprüche von ca. 154.000 bis 304.000 Euro.

Nicht nur Hinterbliebene, auch überlebende Geschädigte mussten lange mit Vorbehalten gegen hohe Entschädigungen leben, auch insofern fürchtete die Gesetzgebung Überforderung der Versichertengemeinschaft.

BGH baute auf Preußisches Allgemeines Landrecht

War sogar der Staat selbst Verursacher, wurde Opfern erst recht Zurückhaltung vorgegeben. Erst 2017 gab der BGH die Ansicht auf, Opfern hoheitlicher Maßnahmen stünde kein Schmerzensgeld zu. Seitdem kommt es auch bei Verletzungen durch rechtmäßige Behördenmaßnahmen in Betracht. Zuvor galt eine Grundsatzentscheidung von 1956, wonach die Gesamtbetrachtung der Rechtsordnung ergab, dass Ersatz für immaterielle Schäden nicht geschuldet wird. Abgeleitet wurde dies aus dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794, die Obrigkeitsstaatlichkeit schimmerte durch.

Kein großes Geld für Leid – so gingen lange Zeit die juristischen Moralvorstellungen zu Lasten schwer Betroffener. Nach einem überkommenen Menschenbild war schnöder Mammon - bei tapfer zu ertragendem Schmerz - links liegen zu lassen: Noch 1996 gab es umgerechnet sparsame 1.500 Euro für eine Brust- und Rippenfraktur.

David gegen Goliath und hinkende Schmerzensgeldtabellen

Da das Schmerzensgeld zumeist zivilrechtlich erstritten wird, spielt auch ein Ungleichgewicht dem Versicherer in die Karten. Auf der einen Seite zermürbte Opfer, auf der anderen die Versicherungsanwälte, nicht persönlich betroffen und ohne einen Anlass, mit einem traurigen Sachverhalt zügig abzuschließen. Schmerzensgeldtabellen sollen bei dieser Konstellation die Angemessenheit von Entschädigungen absichern.

Sie stehen aber im Verdacht, diese Aufgabe nur begrenzt zu erfüllen: Richter neigen dazu, vorrangig der Tabelle den "Tarif" zu entnehmen und Einzelfallaspekte weniger zu beachten, auch weil Hinweise dazu in Tabellen knapp gehalten sind. Die Grenze zwischen dem Ausgleich der Beeinträchtigung und der Genugtuungsfunktion für Täterunrecht verschwimmt durch Körperschadentarife.

Die Vernachlässigung der Genugtuungsfunktion kann aber bei identischen Schädigungen ungerecht sein. Teils wird daher gefordert, die Entschädigungsanteile für Genugtuung und Ausgleich zu trennen. Irreführend ist es auch, dass die Tabellen nur gerichtlich bestimmte Schmerzensgelder aufführen, der überwiegende Teil der Fälle aber außergerichtlich geregelt wird. Auch Altfälle verzerren das Bild.

Zweierlei Maß: Klassenjustizverdacht bei einem Jedermanns-Schaden

Der Begriff der Klassenjustiz steht für verschiedene Aspekte, nach denen durch Gesetz und Rechtsprechung Angehörige verschiedener Schichten unterschiedlich behandelt werden. Eine geringere Wertschätzung von erlittenen Jedermanns-Verletzungen durch zufällige körperliche und seelische Schädigungen könnte niedrige Schmerzensgeldbeträge erklären. Mögliches Indiz dafür wäre die höhere Entschädigungsbereitschaft bei der Verletzung von Persönlichkeitsrechten durch mediale Übergriffe wie in den Fällen von Caroline von Hannover, Jörg Kachelmann oder Sawsan Chebli.

Unterstellungen, mediale Verfolgung oder Beleidigung ziehen oft im Verhältnis deutlich höhere Schmerzensgeld nach sich als körperlichen Schäden.

Ein schwerer Unfall kann jeden treffen, medial relevante Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts droht allerdings bevorzugt Opfern mit hoher Medienrelevanz. Doch wenn Prinzessin Caroline 1996 180.000 Deutsche Mark Entschädigung für unzulässige Titelgeschichten zugesprochen wurden, dem Opfer einer unglaublich brutalen Vergewaltigung im Jahr 1999 40.000 Deutsche Mark und einem Ehepaar, das bei einem Autounfall seine drei Kinder verlor, 110.000 Deutsche Mark - zeigt dann das Entschädigungssystem, trotz rechtsrelevanter Unterschiede, nicht eine Unwucht?

"Halte nun durch und sei hart!

… Der Schmerz kommt dir einmal zustatten." Diese Aufforderung Ovids passte in das römische Recht. Es gab, anders als heute in Italien, noch kein Schmerzensgeld bei Körperverletzungen. Auch im deutschen Schmerzensgeldrecht wären weitere Änderungen vorstellbar: Aus höherem Schmerzensgeld folgende Prämienerhöhungen werden, angesichts der vergleichsweise moderaten Zahl der schweren Körperschäden, auf verkraftbare ein bis zwei Euro pro Monat in der Kfz-Versicherung geschätzt.

Um mehr Gerechtigkeit zu erreichen, haben mehrere Oberlandesgerichte eine taggenaue Berechnung des Schmerzensgeldes vorgenommen. Dem wurde vom BGH mit Urteil v. 15.2.2022 eine Absage erteilt: Die schematische Orientierung ignoriere individuelle Leidensfaktoren. Auch wenn in diesem Fall das konkrete Leid möglicherweise zu wenig Beachtung fand, sollte die schon sehr lange geforderte Standardisierung so schnell nicht vom Tisch sein. Der Ansatz einer Standardisierung war es, durch nachvollziehbare Kriterien bessere Vergleichbarkeit herzustellen plus die vom BGH vorgegebenen Parameter umzusetzen.

Ein Blick auf andere EU-Länder zeigt die Tarifierung von Schmerzensgeldern z. B. in Frankreich, Schweden und Italien. Diese könnte auch in Deutschland mehr Berechenbarkeit liefern. Sie müsste ja nicht in der italienischen Höhe erfolgen, sondern könnte sich an einem moderateren Maßstab orientieren, der den Betroffenen dennoch ein höheres Maß an Wiedergutmachung böte.

Zitiervorschlag

Sanierungsbedürftiges Schmerzensgeldrecht: Das Tabu, für erlittenes Leid Geld zu fordern . In: Legal Tribune Online, 21.02.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47599/ (abgerufen am: 23.04.2024 )

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