Internationales Strafrecht zum 9. Oktober: Eine beson­dere Art der Bezie­hung

Gastbeitrag von Prof. Dr. jur. Michael Kubiciel

09.10.2019

Vor 30 Jahren demonstrierten Tausende gegen das Regime der DDR. Damals existierten in Deutschland zwei Staaten, die doch kein Ausland für einander sein sollten. Die Lösung für Straftaten erklärt Michael Kubiciel.

Der 9. Oktober ist ein historischer Tag für uns Deutsche. Heute vor dreißig Jahren demonstrierten zehntausende Menschen in Leipzig und andernorts gegen das politisch verkrustete und wirtschaftlich ruinierte SED-Regime. Dieser deutsche Herbst des Jahres 1989 erinnert auch an ein vergessenes Kapitel deutscher Strafrechtsgeschichte, das in anderen europäischen Staaten weiterhin höchst relevant ist. Es geht um etwas scheinbar sehr Technisches: das sogenannte interlokale Strafrecht. Selbst der fortgeschrittene Jurastudent und viele Praktiker dürften sich nun fragen: Was ist das?

Dabei steckt hinter dem Wort ein höchst praktisches Problem, das in den vier Jahrzehnten der deutschen Teilung eine besondere politische Note hatte: Welches Strafrecht sollte gelten, wenn ein Ostdeutscher auf dem Territorium der DDR eine Straftat begangen hatte und sich später in den Westen absetzte?

Selten waren solche Fälle nicht. So überschritt – ebenfalls an einem 9. Oktober, allerdings im Jahr 1973 – ein Mann am Berliner Grenzübergang Chausseestraße die innerdeutsche Grenze von West nach Ost und beschmierte das auf dem Gebiet Ost-Berlins stehende Schild "Sie betreten die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik" mit Farbe. Danach konnte er ungehindert wieder auf West-Berliner Gebiet zurückgelangen – und wurde dort wegen Sachbeschädigung angeklagt.

Welches Strafrecht bei Schüssen auf Grenzsoldaten?

Neben solchen, eher skurrilen Fällen und Alltagskriminalität fanden vor allem solche Straftaten große Beachtung, die Flüchtlinge während ihrer Flucht begangen hatten, etwa indem sie auf Grenzsoldaten der DDR schossen. Erhielten westdeutsche Strafverfolgungsbehörden Kenntnis von Straftaten, die Flüchtlinge in der DDR begangen hatten, stellte sich stets die Frage, welches Strafrecht gelten sollte: das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik oder die Vorschriften des Strafgesetzbuchs der DDR von 1968?

Eine Antwort auf diese Frage findet der Strafrechtsanwender normalerweise in den §§ 3 ff. Strafgesetzbuch (StGB), die den Geltungsbereich des (einstmals westdeutschen und heute gesamtdeutschen) StGB regeln. Die Vorschriften handeln von der Jurisdiktion und damit auch von der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts auf transnationale Sachverhalte.

Waren BRD und DDR füreinander "das Ausland"?

Bestand aber zwischen der Bundesrepublik und der DDR ein "normales" transnationales Verhältnis? Die politische, völkerrechtliche und auch strafrechtliche Problematik bringt ein bekannter Satz Willy Brandts aus seiner ersten Regierungserklärung im Jahr 1969 auf den Punkt: "Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland. Ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein."

Auf dieser Grundlage sperrten sich Rechtspraxis und Rechtswissenschaft lange, die Geltung des westdeutschen Strafrechts auf "DDR-Taten“ mit Hilfe der §§ 3 ff. StGB zu bestimmen. Sie griffen vielmehr auf die aus dem 19. Jahrhundert tradierten, ungeschriebenen Regeln des interlokalen Strafrechts zurück. Dabei handelt es sich um ein innerstaatliches Kollisionsrechts, das zur Anwendung kommt, wenn innerhalb eines Staates verschiedene Strafrechtsregeln oder sogar Strafrechtsordnungen existieren. In der Regel führten dessen Grundsätze zur Anwendung des Tatortstrafrechts, unter Umständen also auch des strengeren Rechts der DDR.

Drastische Folgen für Angeklagte

Progressive Strafrechtswissenschaftler wie Albin Eser plädierten hingegen seit den 1970er Jahren für die Anwendung der §§ 3 ff. StGB. Damit sollten zum einen die innerdeutsche Realität zweier Staaten vollständig anerkannt und zum anderen Härten für Beschuldigte gemildert werden. Erfolg hatten sie damit aber hauptsächlich in der Rechtslehre, während die Strafrechtspraxis sich nur zögerlich änderte, im Kern aber am interlokalen Strafrecht festhielt – ungeachtet der damit teilweise verbundenen drastischen Folgen für die Angeklagten. So spiegelte auch die Strafrechtsanwendung über Jahrzehnte die anormale Normalität des in zwei Staaten geteilten Deutschlands - bis die friedliche Revolution im Herbst 1989 ein knappes Jahr später die Deutsche Einheit möglich machte.

Überlebt hat sich das interlokale Strafrecht damit indes nicht. So existiert etwa in Bosnien-Herzegowina bis heute eine vergleichbare Situation, da die Föderation aus drei Teilstaaten ("Entitäten") mit eigenen Strafgesetzbüchern besteht. Auch in anderen Föderationen (USA) oder rechtlichen Mehrebenensystemen (Vereinigtes Königreich) existiert das interlokale Recht fort, im sog. Internationalen Privatrecht, aber teils auch im Strafrecht.

Selbst im deutschen Strafrecht gibt es einige landesstrafrechtliche Regelungen, etwa im Forst-, Fischerei- und Landespresserecht, die nur für einzelne Bundesländer gelten. Ganz ausgedient hat das interlokale Strafrecht daher auch im wiedervereinigten Deutschland nicht, auch wenn es seine historisch-politische Brisanz verloren hat.

Der Autor Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel lehrt Deutsches, Europäisches und Internationales Straf- und Strafprozessrecht, Medizin- und Wirtschaftsstrafrecht an der Universität Augsburg.

Zitiervorschlag

Internationales Strafrecht zum 9. Oktober: Eine besondere Art der Beziehung . In: Legal Tribune Online, 09.10.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38075/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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