Der Gefangenenaustausch mit Russland ist historisch – und wir wissen noch nicht, wie hoch der Preis dafür ausfällt, meint Franz C. Mayer. Er glaubt, dass sich Deutschland mit der Freilassung des Tiergartenmörders keinen Gefallen getan hat.
Die Todesstrafe ist unter dem Grundgesetz (GG) nach Art. 102 abgeschafft. Denn sie ist mit der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 GG) nicht vereinbar, genauso wenig wie die staatliche Folter. Und doch ist in Deutschland vor nicht allzu langer Zeit ein Mensch aufgrund staatlicher Anordnung exekutiert worden: Im Kleinen Tiergarten in Berlin hat 2019 ein Auftragsmörder der russischen Regierung einen tschetschenischen Flüchtling am helllichten Tag umgebracht. Er ist dafür in Deutschland in einem ordentlichen Gerichtsverfahren wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden, unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Damit war eine vorzeitige Entlassung ausgeschlossen. Nun ist genau dieser Auftragsmörder in einem großen Gefangenenaustausch auf Anweisung der Bundesregierung freigelassen worden.
Im Gegenzug sind dafür etliche US-amerikanische, russische und wohl auch ein deutscher Staatsangehöriger vom Putin-Regime überstellt worden. Ihnen sei die wieder erlangte Freiheit gegönnt – für sie und ihre Familien ein Tag des Glücks.
Anders lief es 1977, als RAF-Terroristen den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und eine Lufthansamaschine entführten, um RAF-Kollegen aus der Haft freizupressen. Der seinerzeitige Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte hier eine klare Linie durchgehalten: Der deutsche Staat lässt sich nicht erpressen. Der unmittelbare Preis für diese Klarheit waren das Leben Schleyers und des Kapitäns der Lufthansamaschine. Und Schmidt musste den Rest seines Lebens die Gewissenslast für diese prinzipiengeleitete Entscheidung tragen.
Bilder der Freilassung sind gute PR
Dieser Präzedenzfall ist nun überspielt. Dadurch, dass man Putin seinen Schergen zurückgegeben hat, hat sich der deutsche Staat erpressbar gezeigt und auch für die Zukunft erpressbar gemacht. Es ist offensichtlich, dass Terrorregime sich jederzeit Verhandlungsmasse beschaffen können, indem sie Angehörige von Staaten, die erpresst werden sollen, festsetzen. Zugleich hat Putin all seinen Schergen demonstriert, dass ihnen für ihr Handeln keine echten Konsequenzen drohen, weil man sich gegen die rechtsstaatsverweichlichten westlichen Demokratien am Ende immer durchsetzen wird.
Vielleicht ist dies das eigentliche Problem bei der Entscheidung der Bundesregierung: Es geht nicht nur um den Strafanspruch des deutschen Staates und die Ansprüche der Nebenkläger. Mitten in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg geht es auch um einen Wettbewerb der Systeme. Putin-Bewunderer werden sich einmal mehr bestätigt fühlen, dass der starke Mann am Ende gewinnt.
Der demokratische Rechtsstaat hätte in diesem Fall nicht weichen dürfen. Nun kann man überlegen, ob es um eine bessere demokratische Absicherung solche Entscheidungen geht. Offenbar hat der Generalbundesanwalt die Entscheidung nicht mittragen wollen, sondern musste vom Bundesjustizminister angewiesen werden. Der Oppositionsführer war wohl einbezogen. Die Bundesregierung muss unter enormem außenpolitischem Druck durch die USA gestanden haben. Aber genau das zeigt die Problematik einer durch Politiker verantworteten Entscheidung.
Natürlich helfen die "We brought them home"-Bilder den US-Demokraten im Wahlkampf, und deren Sieg liegt mit Blick auf die Trump-Alternative durchaus im deutschen Interesse. Und auch der Bundeskanzler macht Eindruck, wenn er mitten in der Nacht vor die Presse treten kann und einen Erfolg verkündet. Man sollte sich keine Illusionen machen: Politische Handlungsträger werden die Verfassungsprinzipien nicht als Erstes in ihr Kalkül einstellen. Genau deswegen ist die Wahrung der Verfassung weder den Staatsorganen vorbehalten noch beim Verfassungsgericht monopolisiert, sondern obliegt allen.
Im Fall Schleyer lehnten die Karlsruher Richter es übrigens ab, sich in die Entscheidung über die Freilassung von RAF-Häftlingen einzumischen. Vorliegend wäre es schon äußerst schwierig, einen Rechtsweg zum BVerfG zu konstruieren. Vielleicht finden die Nebenkläger im Tiergarten-Prozess trotzdem noch einen Weg zu einer nachträglichen gerichtlichen oder verfassungsgerichtlichen Klärung.
Es braucht eine Gesetzesänderung
Wie hoch der Preis für die freigelassenen Gefangenen und die Relativierung des Rechtsstaats wirklich war, das wird sich erst im Langzeitverlauf herausstellen: Wenn Putins Schergen weiter in unserem Land morden sollten, wenn das Vertrauen in den Rechtsstaat noch mehr destabilisiert würde, dann könnte sich der Preis als deutlich zu hoch erweisen. Die handelnden Politiker werden dann freilich nicht mehr in der Verantwortung sein.
Auch deswegen sollte darüber nachgedacht werden, die maßgeblichen Regeln so zu gestalten, dass es eben nicht in der Hand eines Bundeskanzlers liegt oder von der Entscheidung einer Bundesregierung abhängt, ob derartige Durchbrechungen des Rechtstaates möglich sind. Ob man dann auch das Gnadenrecht des Bundespräsidenten und der Ministerpräsidenten entsprechend einschränken sollte, wäre die nächste Frage. Das Gnadenrecht ist ohnehin als Relikt aus vorkonstitutioneller Zeiten ein Fremdkörper im Rechtsstaat.
Jedenfalls sollte man denn hier eingesetzten § 456a StPO kritisch und offen diskutieren: Soll, selbst wenn die besondere Schwere der Schuld festgestellt wurde, der Rechtsstaat aufhören können? Wir erleben derzeit an vielen Orten die Relativierung und die Banalisierung des Rechtsstaats. Vielleicht wäre es doch im Sinne unserer spezifischen, deutschen Verfassungstradition seit 1949, bestimmte Fälle aus der konkreten Entscheidungsgewalt von Politikern herauszulösen.
Der Autor Prof. Dr. Franz C. Mayer ist Professor und Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht, Rechtsvergleichung und Rechtspolitik an der Universität Bielefeld.
Rechtsstaat versus Diplomatie: . In: Legal Tribune Online, 02.08.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55148 (abgerufen am: 02.10.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag