Als Reaktion auf die Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland hat die Bundesregierung einen Krisenstab gebildet. Welche Maßnahmen darf der Staat ergreifen? Ein Gespräch mit dem Augsburger Gesundheitsrechtler Ulrich M. Gassner.
LTO: Wenn sich das Coronavirus in Deutschland weiter ausbreitet, müssen wir dann wie in China mit der Abriegelung ganzer Städte und Regionen rechnen?
Prof. Dr. Ulrich M. Gassner: Mit dem Vergleich mit China tue ich mich schwer. Zunächst alles vertuschen, um dann umso drakonischere Maßnahmen zu treffen - das kann kein Vorbild für eine freiheitliche Gesellschaftsordnung sein. Dennoch ist klar: Auch ein freiheitlicher Gesundheitsstaat muss sich gerade bei der Bekämpfung epidemischer Gefahren bewähren. Das rechtliche Instrumentarium dafür steht jedenfalls zur Verfügung und erlaubt zahlreiche effektive Maßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen.
Welche genau meinen Sie?
Zunächst ist hier das Infektionsschutzgesetz (IfSG) zu nennen. Danach können zum Beispiel Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen verboten oder Einrichtungen, in denen überwiegend Kinder oder Jugendliche betreut werden, geschlossen werden. Auch Quarantänemaßnahmen können ergriffen werden. In Betracht kommen auch Tätigkeitsverbote. Die Verwaltungszuständigkeit regeln die Länder. Im Regelfall sind die Kreisverwaltungsbehörden – also Gesundheitsämter, Fachbereiche Gesundheit - zuständig.
Reichen solche primär an Einzelne adressierten Maßnahmen nicht aus, könnte sogar ein innerer Notstand angenommen werden. Denn auch Massenerkrankungen sind Naturkatastrophen im Sinne von Art. 35 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz (GG). Die Abwehr derartiger Gefährdungen ist in erster Linie Sache der Länder. Das betroffene Land kann zu diesem Zweck unter anderem Polizeikräfte anderer Länder und Bundespolizeieinheiten anfordern.
Ist das Land nicht selbst zur Bekämpfung der Gefahr bereit oder in der Lage, kann die Bundesregierung seine Polizei und zusätzlich Polizeikräfte anderer Länder ihren Weisungen unterstellen sowie Einheiten der Bundespolizei einsetzen, Art. 35 Abs. 3 GG. Erstreckt sich die Gefahr über ein Land hinaus, kann sie den betroffenen Landesregierungen Weisungen erteilen, das steht in Art. 91 Abs. 2 GG. Im Extremfall können auf dieser Grundlage auch Ortschaften abgeriegelt werden.
"Einstweiliger Rechtsschutz gegen Quarantäne möglich"
Wie verhältnismäßig müssen diese Einschränkungen von Grundrechten sein? Und: Wenn man eine Maßnahme für übertrieben hält, könnte man sie gerichtlich überprüfen lassen?
In zahlreichen Bestimmungen des IfSG wird das grundrechtliche Übermaßverbot hervorgehoben und auf diese Weise seine Bedeutung auch bei der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten betont. Insofern gelten auch hier die vom Einzelfall abhängigen Grenzen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Der Rechtsschutz gegen unverhältnismäßige Maßnahmen folgt den allgemeinen, verwaltungsrechtlichen Regeln. Das IfSG enthält insofern keine Einschränkung.
Gäbe es für den Einzelnen eine rechtliche und vor allem schnelle Handhabe gegen konkrete Maßnahmen, die ihn zum Beispiel in seiner Freizügigkeit beschränken?
Die zuständige Behörde wird den entsprechenden Verwaltungsakt in der Regel für sofort vollziehbar erklären. Bei der Anordnung zwangsweiser Absonderung – also Quarantäne - besteht von Gesetzes wegen sofortige Vollziehbarkeit. In beiden Fällen wäre aber einstweiliger Rechtsschutz vor dem Verwaltungsgericht möglich.
Eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit würde bei vielen Menschen auch zu wirtschaftlichen Schäden führen, weil sie zum Beispiel nicht mehr arbeiten gehen könnten. Wer bezahlt das?
Das IfSG enthält zwar Regelungen über eine Entschädigung in besonderen Fällen, nicht aber für allgemeine wirtschaftliche Schäden. Dann müsste man schauen, ob im (Landes-)Sicherheitsrecht entsprechende Schadensersatzregelungen vorhanden sind.
Falls nicht, würden die allgemeinen Regeln über staatliche Ersatzleistungen eingreifen. Wegen der damit verbundenen Nachweis- und Durchsetzungsprobleme empfiehlt sich im Zweifel eine entsprechende Ergänzung des IfSG. Fondslösungen sind im deutschen Recht bekanntlich recht unpopulär.
"Um alte Menschen muss sich der Staat kümmern"
Wenn sich die Lage verschlimmern sollte und etwa der Ratschlag gegeben wird, sich mit den wichtigsten Lebensmitteln einzudecken: Ist der Staat verpflichtet, zum Beispiel alten Menschen hierfür die nötige Unterstützung zukommen zu lassen?
Das sehe ich in der Tat so. Um alte und schwache Menschen, die nicht in der Lage sind, für sich selbst vorzusorgen, muss sich der Staat bzw. die jeweilige Kommune kümmern. Das folgt schon aus dem Grundgesetz, denn letztlich geht es um das Existenzminimum - und das muss von Verfassung wegen gewährleistet werden.
Sie forschen an ihrem Lehrstuhl auch international: Welche Rolle spielt die Weltgesundheitsorganisation WHO für das nationalstaatliche Handeln?
Die WHO stellt fest, ob eine gesundheitliche Notlage mit internationaler Tragweite gegeben ist, und empfiehlt für die Betroffenen sowie angrenzende Staaten eine Reihe von Maßnahmen zur Eindämmung und Kontrolle des Ausbruchsgeschehens. Das ist beim Coronavirus am 30. Januar geschehen. Diese Empfehlungen sind unverbindlich.
Eine zentrale Bedeutung für die betroffenen Staaten liegt in der bei der WHO konzentrierten Expertise und den damit verbundenen Unterstützungsleistungen. So unterstützen die Experten der WHO gerade die italienischen Behörden in Bereichen wie klinisches Management, Infektionsprävention und -bekämpfung, Surveillance und Risikokommunikation.
Abschließend eine persönliche Frage: Mit welcher Entwicklung und mit welchen Folgen für die Bürger in Deutschland rechnen Sie?
Am wichtigsten ist: Don't panic! Diese Empfehlung richte ich nicht nur an alle Bürgerinnen und Bürger, sondern auch an die staatlichen Stellen. Wenn wir alle das nötige Augenmaß behalten, werden wir auch eine noch weit stärkere Verbreitung des Coronavirus mit nicht allzu großen Schäden überstehen.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Der Autor Prof. Dr. Ulrich M. Gassner ist Kodirektor des Instituts für Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht (IBGM) an der Universität Augsburg. Er und sein Team forschen auf zahlreichen Gebieten des Gesundheitsrechts.
Coronavirus: . In: Legal Tribune Online, 27.02.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40523 (abgerufen am: 08.12.2024 )
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