Die Coronakrise birgt für getrenntlebende Eltern jede Menge Konfliktpotential. Dürfen beide Eltern ihr Kind überhaupt noch wie gewohnt treffen? Martina Mainz-Kwasniok warnt davor, Umgang zu verweigern und Entfremdung zu betreiben.
Die Kernfamilie soll jetzt zusammenrücken, "Stay home" lautet die Devise. "Genießt Euer Familienleben der besonderen Art mit vorgezogenen Osterferien zu Hause!" Doch die Frage ist: Wer gehört eigentlich zur "Kernfamilie"?
Die Coronakrise ist jedenfalls auch Anlass für eine juristische Auslegung dieses Begriffes. Dabei geht es um all diejenigen, bei denen Mama-Papa-Kind nicht dasselbe Dach über dem Kopf haben, weil sie getrennt leben.
In der anwaltlichen Beratung tauchen in diesen Tagen bereits vermehrt Umgangsstreitigkeiten auf. Und wie so oft in der juristischen Praxis: Es kommt drauf an. Vorzunehmen ist eine Güterabwägung, bei der es diverse Fragen zu klären gilt. Unter anderem folgende:
- Geht es nur um diese beiden leiblichen Eltern und ihre Kinder – oder steht ein Patchworkgeflecht mit weiteren Kindern, Halb- und Stiefgeschwistern und wiederum anderswo wohnenden Elternteilen dahinter?
- War der Umgang bisher eher sporadisch oder gab es gar ein Doppelresidenzmodell?
- Muss zur Durchführung des Umgangs mit dem ÖPNV gereist werden?
- Gehört das Kind einer Risikogruppe an oder eine der Personen in einem der Haushalte?
- Können beide Eltern schon seit Tagen auf persönliche Fremdkontakte verzichten oder arbeiten sie in systemrelevanten Berufen, vielleicht gar im Gesundheitsdienst, an der Supermarktkasse oder anderen besonders gefährdeten Bereichen?
- Wie alt ist das Kind und wie einschneidend wäre hier konkret eine längere Umgangspause?
- Welche altersgerechten technischen Alternativen der Kontaktpflege (Videochat?) gibt es für ausgefallenen persönlichen Umgang?
- Liegen beim Umgangselternteil Einschränkungen seiner Erziehungsfähigkeit vor, die an dessen vernünftigem Umgang mit dem Corona-Thema zweifeln lassen?
- Leben die Eltern in verschiedenen Bundesländern (unterschiedliche Pandemie-Allgemeinverfügungen) oder liegt gar eine internationale Grenze zwischen ihnen?
"Ausgangssperre bedeutet nicht das Ende des Umgangsrechts"
Diese Fragen schneiden schon an, welche Güter es abzuwägen gilt, wenn man als Grundsatz erkannt hat: Corona-Kontakteinschränkungen oder Corona-Ausgangssperre sind nicht grundsätzlich das Ende vom Umgang des Kindes mit beiden Elternteilen.
In den Allgemeinverfügungen der Bundesländer ist das zum Teil ausdrücklich so erwähnt, auch wenn es an manchen Stellen fälschlich als "Geteiltes Sorgerecht" formuliert ist. Das gilt sogar dort, wo Ausgangssperren angeordnet werden. Diese falsa demonstratio zeigt lediglich, dass bei der Abfassung offenbar kein Familienrechtler zugegen war. Dem Sinn nach – es geht ja um Regelung persönlicher Kontakte - kann nur das Umgangsrecht gemeint sein.
Einen Umgang mit der schlanken Begründung "wegen Corona" abzusagen ist also rechtswidrig – und wenn die Familie eine gerichtliche Vorgeschichte mit Titulierung und Ordnungsgeldandrohung hat, wird der Umgang vielleicht praktisch nicht schnell durchsetzbar sein, aber die Umgangsverweigerung müsste später mit einer Geldzahlung an die Staatskasse sanktioniert werden.
Was bedeutet hierbei die im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) geregelte Alleinentscheidungsbefugnis in Alltagsangelegenheiten? § 1687 BGB bestimmt: Auch, wenn das Sorgerecht insgesamt ein "gemeinsames" ist, so hat doch der Lebensmittelpunkt-Elternteil mehr zu sagen. Er kann nämlich allein all das entscheiden, was die Alltagsgestaltung betrifft. Zur Abgrenzung zu den größeren Fragen, bei denen man Einvernehmen mit dem anderen Elternteil braucht, heißt es: "Alltagsangelegenheit sind alle Entscheidungen, die keine schwer abzuändernden Auswirkungen auf das Kind hat."
Geht es also "nur" darum, in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung Kontakte zu meiden, um die Ansteckungswelle zu verlangsamen und Andere zu schützen, so kann der Lebensmittelpunkt-Elternteil eigenverantwortlich entscheiden, wohin er mit dem Kind geht, so lange er damit nicht gegen Verbote verstößt und solange er das Kind nicht konkret gefährdet.
Zu bedenken ist dabei aber: Gehört der andere Elternteil einer Risikogruppe an und setzt man das Kind zu sorglos Ansteckungsrisiken aus, kommt das im Ergebnis einer Umgangsvereitelung gleich.
Kindeswohl: Besondere Verantwortung in Corona-Zeiten
Nun gilt diese Alleinentscheidungsbefugnis aber auch spiegelbildlich: Ist das Kind beim Umgangselternteil, so kann dieser dort alle Entscheidungen über die gemeinsame Zeit treffen, die keine schwer abzuändernden Auswirkungen haben. Oft diskutiert war das bisher, wenn die Mutter (als statistisch häufigerer Lebensmittelpunkt-Elternteil) dem Vater verbieten wollte, dass das Kind dessen neue Freundin kennenlernt. So weit reicht der lange Arm der Mutter nicht, denn der Vater kann während seiner Betreuungszeit in eigener Verantwortung entscheiden, ob er die Freundin für kindeswohlgerecht und den Zeitpunkt für richtig hält.
Dem Umgangsberechtigten muss man also genauso zutrauen, dass er die Zeit mit dem Kind kindeswohlgerecht so gestalten wird, dass er sich jedenfalls an behördliche Verbote, besser noch an gesundheitspolitische Empfehlungen hält. Diese Verantwortung muss der andere Elternteil beim Umgang zusammen mit dem Kind übergeben.
Eine Ausnahme davon, dass diese Verantwortung mit übergeben werden kann, dürften Fälle sein, in denen ein Elternteil über das alleinige Sorgerecht oder die alleinige Gesundheitsfürsorge verfügt. Dieser Elternteil muss im Blick haben, ob sich zum Beispiel nach Rückkehr aus dem Umgang eine überdurchschnittliche Gefahrenlage für das Kind oder für seine Haushaltsangehörigen ergibt.
In solchen Fällen kann dieser Sorgeberechtigte für die Umgangszeit Anordnungen treffen, die mit der Gesundheit des Kindes zu tun haben, und diese berechtigten Anordnungen können faktisch sogar einen Ausfall nach sich ziehen, wenn keine Gestaltung denkbar ist, bei der keine Risiken eingegangen werden. Das betrifft also vorerkrankte Kinder oder Risikogruppen im Haushalt - nicht den solidarischen Schutz der Allgemeinheit.
Neben dem Sorge- und Umgangsrecht gibt es im Übrigen auch Informationspflichten. Nach § 1686 BGB muss der andere Elternteil (auch wenn er nicht über das Sorge- oder Umgangsrecht verfügt) informiert werden, wenn das Kind positiv getestet ist, am besten auch, wenn es Kontakt zu einem Corona-Positivem hatte.
Corona als Vorwand für Umgangsentzug
Nicht ausgeschlossen scheint, dass mancher Elternteil die Ansteckungsgefahr durch Covid-19 als Vorwand nutzen wird, um mehr Zeit mit dem Kind zu verbringen. So wird bereits von Umgangsberechtigten berichtet, die das Kind während des Umgangs für quarantänebedürftig erklären (lassen) und nicht zurückbringen. Dieses Verhalten wäre nur dann legitim, wenn es nicht vorgeschoben ist und das Kind im Allgemeinen auch schon mal längere Zeit mit Übernachtungen, zum Beispiel in den Ferien, dort verbringt, so dass keine grundsätzlichen Kindeswohlaspekte gegen eine Verlängerung des Aufenthaltes sprechen.
In vielen Fällen ist der andere Elternteil übrigens jemand, den man sich ganz bewusst zum Kinderzeugen ausgesucht hatte – viel genutztes Wort im Familienrecht ist das "Auswahlverschulden". Ursprünglich hatte man dieser Person also mal zugetraut, vernünftige Entscheidungen für Kinder treffen zu können. Vielleicht ist die Coronakrise, in der es für jeden schwierig ist, den richtigen Platz auf der Skala zwischen Hysterie und Bagatellisierung zu finden, ein Anlass, Verhaltensmuster auf den Prüfstand zu stellen. Man könnte für möglich halten, dass der getrenntlebende Elternteil mit seinem Augenmaß handelt - und dass das objektiv zwar anders, aber nicht zwingend schlechter als das eigene Augenmaß ist.
Eine Anwaltskollegin berichtete tatsächlich von einem Fall, in dem die Eltern schon lange gerichtlich über ein Wechselmodell stritten und Betreuungsstunden zählten. Mit Schließung der Schulen und beiderseitigem Betreuungsproblem einigten sie sich ohne Anwälte und Gericht auf "eine Woche bei Mama, eine Woche bei Papa". Solche Einzelfälle sind Lichtblicke.
Mit dem Umgangsrecht nicht leichtfertig umgehen
Das Recht auf Umgang ist für Eltern und Kinder ein Grundrecht, Art. 6 Grundgesetz (GG). Damit geht man nicht leichtfertig um. Andererseits nehmen wir zurzeit einige Grundrechtseinschränkungen einsichtig hin, gemeinsam für die "große Sache". Auch Großeltern verzichten derzeit vernünftigerweise auf ihre "Umgangsrechte" an den Enkeln.
Der Umgangselternteil, der symptomfrei ist, keinen Kontakt zu Erkrankten hatte, der nicht in einem Patchworkgeflecht mit vielen Ansteckungsrisiken lebt, der das Kind nicht mit dem ÖPNV abholt und der versichert, mit dem Kind unnötige Sozialkontakte zu meiden, wird gute Argumente haben, dass das Familiengericht seinen Umgangsanspruch durchsetzen hilft.
Derjenige aber, der über den Umgang mit dem Kind für beide Seiten neue potentielle Ansteckungsketten schafft, weil es dort viele Außenkontakte gibt, wird sich eher sagen lassen müssen, dass er für einige Wochen mit dem Kind video-telefonieren soll.
Allerdings wissen wir noch nicht, wie lange die Familiengerichte überhaupt noch arbeitsfähig bleiben: überall wird auf Notbetrieb zurückgefahren und Termine sind weitgehend abgesagt.
Wir befinden uns in einer Ausnahmesituation, und das gilt auch im Familienrecht. Es gibt keine Präzedenzentscheidungen für Pandemien, und es gibt womöglich für ausgefallenen Umgang keinen kurzfristigen Rechtsschutz. Von allen Beteiligten ist jetzt Vernunft verlangt, und dieser Appell geht nicht nur an die beteiligten Eltern, die vielleicht zu tief in ihrem Nachtrennungskonflikt verstrickt sind, sondern auch an die beratenden Anwälte: Corona sollte keine willkommene Ausrede sein, um unliebsamen Umgang zu verweigern und Entfremdung zu betreiben.
Die Autorin Martina Mainz-Kwasniok ist Rechtsanwältin in Aachen und betreibt dort seit 1998 eine "Boutique"-Kanzlei nur für Familienrecht. Sie ist Fachanwältin für Familienrecht, Mediatorin mit Zusatzqualifikation in Cooperativer Praxis und Fachbuchautorin.
Umgangsverweigerung wegen Corona?: . In: Legal Tribune Online, 26.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41103 (abgerufen am: 10.12.2024 )
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