In Italien müssen Ärzte entscheiden, welchen Menschen sie an einer Coronavirus-Infektion sterben lassen. Auch in Deutschland könnte das Realität werden. Nur, nach welchen Kriterien? Till Zimmermann hat sich die Rechtslage angesehen.
Die Ressourcen sind begrenzt: Deutschland verfügt aktuell über 28.000 Intensivbetten. Die Personaldecke in den Krankenhäusern ist dünn. Bis zum Ende der Corona-Pandemie prognostiziert die Bundesregierung wenigsten 50 Millionen Infizierte, von denen 2,5 Millionen zum Überleben auf eine rund zehntägige künstliche Beatmung angewiesen sein werden. Der soziale Shutdown soll die Infektionskurve niedrig halten, damit jeder Bedürftige versorgt werden kann. Denn bei einer Überlastung der Krankenhäuser steigt die Sterblichkeitsrate bis um den Faktor zehn (von 0,5 auf 5%).
Was ein Überschreiten der Kapazitäten bedeutet, zeigt das Beispiel Italien: "Jedes Beatmungsgerät wird zu Gold". Wer keines bekommt, stirbt. Die Horrorentscheidung folgt trotz ärztlicher Ermessensspielräume normativen Regeln. Das Auswahlverfahren heißt "Triage" (vom französischen "trier": sortieren, aussuchen) und wurde in Italien durch Vorgaben der fachmedizinischen Gesellschaft SIAARTI konkretisiert. Diese stellen maßgeblich auf die Länge der rettbaren Restlebenszeit ab. Die Philosophin Professor Dr. Weyma Lübbe von der Universität Regensburg bezeichnet das als radikal-utilitaristische Altersdiskriminierung.
Keine Richtlinien in Deutschland
Was gilt, wenn in Deutschland die Kapazitäten nicht mehr ausreichen? Was müssen Ärzte im Dilemma beachten?
Die rechtliche Situation ist unklar. In der Bund-Länder-Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012, die sich mit dem Szenario einer Corona-Pandemie und der Notwendigkeit tödlicher Patientenselektion beschäftigt, heißt es in einer Fußnote lapidar: "Bisher gibt es keine Richtlinien" – verbunden mit der Empfehlung, die komplexe ethische Problematik sollte "möglichst nicht erst in einer besonderen Krisensituation betrachtet werden".
Zu spät. Der aktuelle Nationale Pandemieplan schweigt. Die Medizinwissenschaft blendet die Selektions-Frage ohnehin meist verklemmt aus. Was es gibt: Einen bunten Strauß an Vorschlägen in einer Handvoll rechtsethischer Fachpublikationen, Anhaltspunkte im Transplantationsgesetz (TPG) – und die allgemeine Strafrechtsdogmatik.
Strafrecht: Rechtfertigende Pflichtenkollision
Was genau hat das (Straf-)Recht an Lösungen zu bieten? Klar ist, die Ärztin im Krankenhaus ist als Garantin verpflichtet, Corona-Patienten intensivmedizinisch zu behandeln. Tut sie dies nicht und stirbt der Patient, ist sie prinzipiell wegen Totschlags durch Unterlassen strafbar. Reichen ihre Mittel nicht aus, allen zu helfen, befindet sie sich in einer Handlungspflichtenkollision. Diese ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt.
Aus der Vorschrift über den rechtfertigenden Notstand (§ 34 Strafgesetzbuch, StGB) ist jedoch zu entnehmen, dass die Abwendung der größeren Gefahr die Hinnahme der geringeren legitimiert: Kann ein Patient noch eine Weile durchhalten, ist die vorrangige Behandlung des akut Bedürftigen die erlaubte Wahl des kleineren Übels. Medizinische Dringlichkeit ist ein zulässiges Auswahlkriterium.
Bei gleicher Dringlichkeit ist § 34 StGB keine Hilfe. Die Beurteilung dieser Fälle – sie kommen auch jenseits von Katastrophen gelegentlich vor – ist umstritten. Der StGB-Kommentar von Thomas Fischer verlangt vom Arzt Unmögliches, nämlich die Rettung beider. Das ist unfair und indiskutabel.
Die herrschende Ansicht verlangt nur die Rettung einer Person und gibt dem Arzt die freie Wahl. Der oft eingeschobene Nachsatz, die Entscheidung sollte an Gleichheitsgrundsatz und bewährten ethischen Kriterien orientiert sein, ist strafrechtlich belanglos. Selbst Bestechung verstößt hier nur gegen Standesrecht. Das ist eine gute Nachricht für die Ärzte – und eine schlechte für die ärztlicher Willkür ausgelieferten Corona-Patienten.
Skizze einer rechtlichen Regelung
Eine Triage-Regelung auf gesetzlicher Grundlage tut Not. Ihr Inhalt wäre zunächst ein Tabu-Katalog: Die Orientierung an sozialem Status, Alter und Geschlecht ("Frauen und Kinder zuerst") ist unzulässig. Dasselbe gilt für eine Lebensrestzeit-Rechnung à la Italien. In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Luftsicherheitsgesetz heißt es zu tragischen Auswahlentscheidungen, menschliches Leben genieße "ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz" (Beschl. v. 20.03.2013, Az. 2 BvF 1/05).
Zulässig ist lediglich das Aufgeben derjenigen, die ohnehin keine realistische Chance haben, Covid-19 auch bei optimaler Versorgung zu überstehen.
Schwieriger ist der Positiv-Katalog. Ausgangspunkt muss die anti-utilitaristische, am normativen Individualismus orientierte Ausrichtung des Grundgesetzes (GG) sein. Zulässig sind nur solche Allokationsregeln, die im Knappheitsfall jedem einzelnen eine faire Chance auf die rettende Behandlung bieten. Im medizinrechtlichen Jargon: den realisierungsfähigen derivativen Teilhabeanspruch aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG einräumen.
Als Prüfstein der Fairness mag der vom BVerfG gelegentlich bemühte "Schleier des Nichtwissens" nach dem US-amerikanischen Philosophen John Rawls dienen: Gerecht sind Regeln, die bei einer ex ante-Betrachtung jedem Einzelnen, ungeachtet seines ihm noch unbekannten Corona-Schicksals, eine möglichst optimale und auch im worst case (schlimmsten Fall) akzeptable Position sichern.
Diskutable Optionen
Folgende Optionen scheinen diskutabel zu sein:
Medizinische Dringlichkeit: Wer warten kann, muss warten – auch wenn sich seine Überlebensaussicht verschlechtert. Hierdurch ergibt sich die Chance, am Ende sogar beide Patienten zu retten. Auch im Verteilungskampf um lebensrettende Organe werden diese primär nach dem "sickest first"-Prinzip (krankste zuerst) vergeben (§ 12 Abs. 1 S. 3 TPG).
Zufallsentscheid: Wird zwischen zwei akut behandlungsbedürftigen Patienten gelost, bekommt jeder (ungeachtet der Größe seiner Überlebensaussicht) die gleiche 50/50-Chance auf Behandlung. Das klingt skandalös, ist es aber nicht: Was wir für die Vergabe von Kita-Plätzen und Bürgermeisterposten als gerecht akzeptieren, wird nicht falsch, wenn es um Beatmungsgeräte geht.
Prioritätsprinzip: Wer hat, der hat. Keinem rettungsfähigen Patienten am Beatmungsgerät darf dieses wieder weggenommen werden, um es zur Versorgung eines aussichtsreicheren Patienten einzusetzen. Dieses letztlich ebenfalls zufallsbasierte Müller-Prinzip ("Wer zuerst kommt …") ist nicht frivol; auch unsere gesamte Eigentumsordnung beruht im Kern auf diesem Grundsatz (§ 958 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch, BGB).
Andere Kriterien sind problematisch
Die Schweiz verfährt bei der Corona-Triage nach dem Prinzip "save the most" (rettet die meisten): Beatmet wird, wer Covid-19 mit höherer Wahrscheinlichkeit überlebt. Ähnliches findet sich als Nebenkriterium im Transplantationsgesetz (TPG): Organzuteilung nach "Erfolgsaussicht". Das ist nicht-utilitaristisch und intuitiv moralisch plausibel: Es verbessert sich dadurch ex ante die Gesamt-Überlebenswahrscheinlichkeit jedes Einzelnen.
Die Crux: Im Einzelfall bedeutet dies selbst bei überwiegender Rettungschance (z.B. 70%) ein sicheres Todesurteil, wenn die Chance des anderen nur marginal höher ist. Dies wäre nach Rawls eine unzumutbar chancenlose worst case-Position und, so der BGH zum Göttinger Transplantationsskandal, "durchgreifenden Bedenken unter dem Blickwinkel von Art. 2 Art. 2 S. 1, Art. 3 Abs. 1 GG ausgesetzt" (BGH, Urt. v. 28.06.2017, Az. 5 StR 20/16).
Ähnliche Probleme bietet das Modell "Rettet die Retter". Danach sind Schlüsselfiguren des Gesundheitssystems (Ärzte, Pfleger) aufgrund ihrer Systemrelevanz prioritär zu behandeln. Das ist keine unfaire Status-Privilegierung, sondern, gesamtgesellschaftlich betrachtet, eine Verbesserung der Rettungschancen aller: Eine genesene (zudem immunisierte) Ärztin erhöht die Behandlungskapazitäten. Dieses Prinzip genießt rechtliche Anerkennung: Im überfüllten Rettungsboot ist der einzige Steuermann von der Überlebenslotterie ausgenommen (US v. Holmes, 1842); das medizinische Fachpersonal erhält den lebensrettenden Grippe-Impfstoff zuerst (§ 1 Abs. 1 S. 3 Nr. 3 ISchGKVLV 2009).
Indes: Für systemirrelevante Patienten bedeutet die Regel gänzliche Chancenlosigkeit im Wettbewerb um das Beatmungsgerät.
Wie auch immer: Der Gesetzgeber ist dringend zur Regelung der Triage aufgerufen – zur Entlastung der Ärzte und zur Sicherheit der Patienten. Er muss sich dabei gerechter Differenzierungskriterien bedienen und kann diese auch kombinieren. Bis es soweit ist, haben die Ärzte freie Hand und strafrechtlich nichts zu befürchten.
Der Autor Dr. Till Zimmermann ist Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht einschließlich europäischer und internationaler Bezüge an der Universität Trier.
Ärzte in Zeiten von Corona: . In: Legal Tribune Online, 23.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40967 (abgerufen am: 13.12.2024 )
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