Bei begrenzten Ressourcen müssen Ärzte entscheiden, wen sie behandeln. Klinisch-ethische Empfehlungen raten jetzt, möglichst viele Patienten zu versorgen. Gut so, meint Eric Hilgendorf - auch wenn das bei Juristen ein mulmiges Gefühl erzeugt.
Die Corona-Virus-Pandemie stellt mittlerweile nicht mehr bloß eine gewaltige medizinische Herausforderung dar, sondern wirft zunehmend auch juristische und ethische Probleme auf. Eines der schwierigsten ist die Priorisierung von Schwerstkranken in Situationen unzureichender medizinischer Ressourcen.
Aus Italien kommen Berichte, dass in Intensivstationen sehr alte Patienten von vornherein abgewiesen werden, um in den - zu wenigen - Intensivbetten jüngere Menschen mit besseren Heilungsaussichten behandeln zu können. Ähnliches wird mittlerweile aus französischen Kliniken gemeldet.
Es liegt auf der Hand, dass derartige Entscheidungen ethisch wie rechtlich höchst problematisch sind. Für die Personen, die sie treffen müssen, stellen sie eine enorme emotionale Belastung dar. Rechtliche Vorgaben gibt es bislang nicht. Sieben deutsche medizinische Fachgesellschaften, darunter die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) haben am Mittwoch deshalb "klinisch-ethische Empfehlungen" verabschiedet, auf deren Grundlage vergleichbare Fälle in Deutschland behandelt werden sollen.
Juristen: Weil nicht sein kann, was nicht sein darf?
Triage (von franz. trier: sortieren), ein aus der Militärmedizin stammendes Konzept, meint die Priorisierung dringend benötigter medizinischer Hilfsleistungen, ohne die schwerste Verletzungen bis hin zum Tod drohen. Dabei stellt sich offensichtlich die Frage nach den bei der Priorisierung anzuwendenden Kriterien. Auch in der Notfallmedizin gibt es entsprechende Kriterienkataloge, die in der Regel in Entscheidungsschemata einfließen, welche die Verantwortlichen vor Ort direkt anwenden können. Ein solches Entscheidungsschema wurde auch den neuen Empfehlungen der DIVI beigefügt.
Besonders problematisch sind Triage-Entscheidungen dann, wenn Leben gegen Leben steht, wenn also die Ablehnung der medizinischen Versorgung für den nicht behandelten Patienten ein sicheres Todesurteil bedeutet. In der gegenwärtigen Krise geht es vor allem um solche Fälle.
In der juristischen Literatur findet sich dazu häufig die Formulierung, Menschenleben "könnten" nicht gegeneinander abgewogen werden. Diese Aussage ist jedoch offenkundig falsch, denn in vielen Triage-Situationen werden ja faktisch Leben gegeneinander abgewogen. Gemeint ist, dass Leben nicht gegeneinander abgewogen werden sollen oder dürfen. Eine ähnliche Formulierung findet sich auch in den am Mittwoch vorgestellten Empfehlungen der Mediziner: "Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürfen Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden".
Nimmt man das wörtlich, so würde es bedeuten, dass man in der Triage-Situation nicht nach Gründen suchen dürfte, um seine Entscheidung rational zu strukturieren, also gar nicht erst in einen Überlegungs- und Abwägungsprozess eintreten darf. Oder ist gemeint, dass die Rettung von menschlichem Leben niemals die Opferung anderer Leben rechtfertigenkönne?
Derartige Fragen sind aus den Debatten um den Weichenstellerfall (engl. "Trolley-Problem") bekannt und wurden in Deutschland zuletzt im Zusammenhang mit dem automatisierten Fahren diskutiert. In Triage-Situationen, wie sie jetzt vorkommen, wird die Schwäche mancher Positionen offenbar: Wollen wir wirklich behaupten, dass Ärzte, die einen Infizierten an das einzige vorhandene überlebenswichtige Beatmungsgerät anschießen, einen anderen aber nicht mehr anschließen können, rechtswidrig handeln?
Rechtswissenschaftlich noch nicht ausgereift: die rechtfertigende Pflichtenkollision
Aus dem Strafrecht ist der Gedanke der rechtfertigenden Pflichtenkollision bekannt, der auch hier angewandt werden könnte. Wer von zwei gleichwertigen Handlungspflichten, die er nicht beide erfüllen kann, die eine erfüllt, handelt gerechtfertigt. Bei ungleichwertigen Handlungspflichten ist die höherrangige zu erfüllen. Allerdings kann die rechtfertigende Pflichtenkollisionen nur Unterlassungstaten rechtfertigen, also etwa die Opferung eines Menschen durch Verweigerung einer Behandlung, nicht aber aktives Tun, also etwa eine direkte Tötung.
Kollidieren Handlungs- und Unterlassungspflichten miteinander (etwa wenn dem einen Patienten ein Beatmungsgerät abgenommen werden soll, um einen anderen anzuschließen), so kommt grundsätzlich § 34 Strafgesetzbuch (rechtfertigender Notstand) in Frage. Bei gleicher Dringlichkeit hilft diese Regelung aber nicht weiter, wie bereits Till Zimmermann vor einigen Tagen bei LTO ausführte.
Und welche Faktoren dürfen überhaupt eine Rolle spielen, und wer entscheidet darüber? Wie sieht es aus, wenn mit dem Gerät entweder ein einzelner Patient durchgehend oder zwei Infizierte abwechselnd beatmet werden können? Bislang wurde von der überwiegenden Ansicht vertreten, dass quantitative Aspekte (ein Leben gegen 500) bei der Abwägung von Leben gegen Leben keine Rolle spielen dürften. Ein Leben, so sagt man, „wiege“ genauso viel wie fünf oder 500 Leben. Dürfte der Arzt also zwei Infizierte sterben lassen, um einen anderen zu retten? Das sind Fragen, die in der Rechtswissenschaft noch nicht ausreichend thematisiert wurden.
Nicht die Ärzte mit juristischen Problemen belasten
Positiv gewendet, stellt sich in der gegenwärtigen Krise zunächst die Frage, welches Auswahlkriterium angewandt werden darf oder soll. Unterschiede der Hautfarbe oder des Geschlechts scheiden offenkundig aus. Auch das Lebensalter als solches darf rechtlich gesehen nicht relevant sein.
Es gehe, so heißt es in den Formulierungen der medizinischen Fachgesellschaften, darum, "mit den (begrenzten) Ressourcen möglichst vielen Patienten eine nutzbringende Teilhabe an der medizinischen Versorgung unter Krisenbedingungen zu ermöglichen". Dieser Ansatz verdient Beifall, auch wenn manche Beobachter Vokabeln wie "möglichst viele" und "nutzbringend" mit Skepsis lesen werden, klingt hier doch der Bentham´sche Gedanke einer Maximierung des Nutzens Aller an.
Die Fachgesellschaften empfehlen, man solle sich in Triage-Situationen "am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren" und "auf Behandlung derer, bei denen keine oder nur eine sehr geringe Erfolgsaussicht besteht", verzichten. Aber was genau bedeutet "Erfolg" in diesem Zusammenhang – Überleben? Überleben ohne schwere Schäden? Überleben ganz ohne Folgeschäden? Sollte ein Mensch, der eine 50-prozentige Chance hat, ohne Folgeschäden zu überleben, einem anderen vorgezogen werden, der eine 80-prozentige Überlebenswahrscheinlichkeit hat, dies aber nur mit schweren Folgeschäden?
Wir Juristen täten gut daran, unsere Streitfragen nicht zu Lasten der Mediziner auszutragen. Eine pragmatische Lösung ist es, zunächst einmal jede als noch vertretbar erscheinende medizinische Entscheidung zu akzeptieren, und nur offenkundig nicht mehr vertretbare Entscheidungen als rechtswidrig einzustufen. Es ergibt keinen Sinn, Mediziner in derartigen Extremsituationen auch noch mit juristischen Problemen zu belasten. Deren Lösung ist Aufgabe der Rechtswissenschaft.
Der Autor Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtstheorie, Informationsrecht und Rechtsinformatik an der Universität Würzburg. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte liegt im Medizinstrafrecht.
Triage-Empfehlungen in der Coronakrise: . In: Legal Tribune Online, 27.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41115 (abgerufen am: 05.10.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag