Nach Infektionen bei dem Fleischfabrikanten Tönnies steht mit den Kreisen Gütersloh und Warendorf eine ganze Region erneut unter massiven Beschränkungen. Wer dafür haften könnte, erklären Michael Winkelmüller und Daniel Neuhöfer.
Nordrhein-Westfalen gilt als Vorreiter bei der geordneten Rückkehr zur Normalität. Die Landesregierung folgt einem stringenten Stufenplan: Mit wöchentlichen Updates der Coronaschutzverordnung NRW (CoronaSchVO) ist das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben schrittweise wieder hochgefahren worden.
Doch nun wurden über 1.500 Neuinfektionen bei der Fleischfabrik Tönnies in Rheda-Wiedenbrück festgestellt. Seit 24. Juni, null Uhr, gilt in den Kreisen Gütersloh und Warendorf die Verordnung zum Schutz von Neuinfizierung mit dem Coronavirus in Regionen mit besonderem Infektionsgeschehen (CoronaRegioVO).
Im Infektionsschutzgesetz (IfSG) gibt es dafür eine ausreichende Rechtsgrundlage: Wenn Kranke, Infizierte, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden, sind die Behörden zum Handeln verpflichtet. Die Fleischfabrik ist durch Einzelverfügung geschlossen, die gesamte Belegschaft und deren Kontakte – insgesamt über 7.000 Personen – stehen unter Quarantäne. Dabei haben die Ordnungskräfte sogar ganze Wohnviertel abgeriegelt, nachdem offenbar Werkarbeitnehmer die Beschränkungen missachtet und abzureisen versucht hatten.
Die Maßnahmen müssen sich nicht nur gegen Störer, sondern auch gegen Nichtstörer richten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung des Virus erforderlich ist. Dazu zählen Aufenthaltsbeschränkungen im öffentlichen Raum, Verbote des Betriebs von Fitnessstudios, des Kontaktsports und vieler weiterer Aktivitäten. Gerade als in NRW die Kitas und Grundschulen wieder geöffnet wurden, werden sie im Kreis Gütersloh wieder geschlossen. Dass die – auch drastischen – Maßnahmen rechtmäßig sind, ist nach der bisherigen Rechtsprechung des OVG Münster kaum zweifelhaft.
Ordnungsrechtliche Störerhaftung
Anders als bei der bundes- und weltweiten ersten Welle sind die Infektionen offenbar eindeutiger zu lokalisieren. Die Landesregierung führt sie auf Verstöße gegen Arbeitsschutzrecht und Infektionsschutzrecht in der Fleischfabrik zurück. Falls das zutrifft, umfasste die ordnungsrechtliche Verantwortlichkeit auch die Gefahrenabwehrmaßnahmen und die Kosten dafür. Das schließt die unmittelbaren Maßnahmen der Behörden ein, für die Gebühren erhoben werden. Die Störerhaftung aus dem allgemeinen Ordnungsrecht umfasst grundsätzlich auch Entschädigungszahlungen für die Schließung von Betrieben Dritter.
Das Problem für die Betriebe ist: Solche Entschädigungszahlungen sieht das IfSG nicht vor. Der Anspruch auf Entschädigung für Vermögensnachteile aufgrund behördlicher Eingriffe gemäß § 65 IfSG besteht nur gegenüber Maßnahmen zur Verhütung einer Krankheit, die noch nicht ausgebrochen ist (§ 16 ff. IfSG).
Sobald eine Krankheit aufgetreten ist und bekämpft wird (§§ 28 ff. IfSG), erhalten diejenigen eine Entschädigung, deren Arbeit infolge einer an sie adressierten Verfügung ruhen muss, weil sie ansteckungs- oder krankheitsverdächtig sind (§ 56 Abs. 1 IfSG). Das betrifft also die Beschäftigen bei Tönnies selbst, nicht aber die sonstigen von der CoronaRegioVO betroffenen Unternehmen und deren Beschäftigten.
Immer schwierig: die Vermögensschäden
Zivilrechtlich kommt eine Haftung des Schlachtunternehemens für Gesundheitsschäden derjenigen in Betracht, die sich aufgrund – unterstellter – fahrlässiger Pflichtverletzungen bei Tönnies mit dem Coronavirus infiziert haben (§ 823 Abs. 1 BGB). Das Problem ist in diesen Fällen allerdings häufig die Beweisführung, weil die Kausalität zwischen den unterstellten Verstößen gegen Arbeitsschutzrecht und Infektionsschutzrecht und der individuellen Infektion festgestellt werden muss. Namentlich für die Betriebsschließungen stellt sich aber noch ein weitergehendes Problem: die Haftung für Vermögensschäden.
Diese trifft denjenigen, der gegen ein den Schutz eines anderen bezweckenden Gesetzes verstößt (§ 823 Abs. 2 BGB). Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Schutzgesetz eine Rechtsnorm, die zumindest auch dazu dienen soll, den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts zu schützen (vgl. BGH NJW 2004, S. 356). Das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) bezweckt nur den Schutz von Beschäftigten des jeweiligen Betriebs (§ 1 ArbSchG). Unternehmen sind daneben aber auch verantwortlich für die Reduzierung von Infektionsrisiken im Sinne des IfSG (§ 4 CoronaSchVO).
Dazu zählt unter anderem, Kontakte innerhalb der Belegschaft - so weit wie tätigkeitsbezogen möglich - zu vermeiden und Hygienemaßnahmen unter Beachtung der aktuellen Erfordernisse des Infektionsschutzes zu verstärken. Beides folgt auch aus dem vom BMAS veröffentlichten SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard. Wo ein Mindestabstand von 1,5 m nicht eingehalten werden kann, müssen alternative Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Wenn auch das nicht möglich ist, müssen Mund-Nasen-Bedeckungen eingesetzt werden.
Die CoronaSchVO bezweckt den Schutz vor Neuinfizierungen mit SARS-CoV-2. Ob auch Vermögensschäden von Schutzgesetzen erfasst sind, ist offen; die Rechtsprechung ist hier sonst eher zurückhaltend. Eine Haftung des Unternehmens kommt aber in Betracht, wenn die Gerichte von einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung ausgehen (§ 826 BGB). Das ist eine Frage des Einzelfalls, allerdings keineswegs ausgeschlossen: Die "grob leichtfertige oder rücksichtslose Verletzung von Berufspflichten" ist zur Begründung der Sittenwidrigkeit anerkannt. Für die Haftung genügt bedingter Vorsatz der Schädigung.
Eigene Sanktionen im IfSG
Der Infektionsschutz ist durch ein umfassendes Sanktionsregime abgesichert. Relevante Bußgeldvorschriften finden sich in § 73 Abs. 1a IfSG. Sowohl formelle als auch materielle Verstöße sind nach den einzelnen Ziffern dieser Vorschrift bußgeldbewehrt. Die Verantwortlichen persönlich und auch das Unternehmen könnten demnach in Haftung genommen werden. Beispielsweise handelt ordnungswidrig, wer gegen per Landesverordnung erlassene Schutzmaßnahmen verstößt, wenn die Verordnung insoweit auf § 73 IfSG verweist (§ 73 Abs. 1a Nr. 24 i. V. m. §§ 32, 28 IfSG). Sowohl die CoronaSchVO als auch die neuen Beschränkungen in der CoronaRegioVO sehen einen solchen Verweis vor.
Das IfSG sieht zudem eigene Straftatbestände vor. Verstöße gegen bestimmte materielle Bußgeldtatbestände können strafbar sein, wenn es dadurch zusätzlich zu einer Verbreitung von SARS-CoV-2 kommt (§ 74 IfSG). Mithin kann sich derjenige strafbar machen, der aufgrund eines Verstoßes gegen die CoronaRegioVO ordnungswidrig handelt und ein solcher Verbreitungserfolg hinzutritt. Das kann jede bei Tönnies für die Arbeitsabläufe verantwortliche Person treffen. Abhängig von der Organisation des Schlachtunternehmens können dies Mitglieder der Geschäftsführung oder auch nachgelagert Verantwortliche wie Werks- oder Betriebsleiter sein.
Aus Unternehmenssicht sind die arbeitsschutzrechtlichen Sanktionstatbestände letztlich noch relevanter als die genuin infektionsschutzrechtlichen Tatbestände. Insbesondere muss aufgrund der andauernden Pandemielage die Gefährdungsbeurteilung in jedem Unternehmen angepasst werden. Bereits wenn eine erforderliche Aktualisierung der Gefährdungsbeurteilung, unterbleibt, drohen arbeitsschutzrechtliche Bußgelder (§ 25 ArbSchG). Dieses Bußgeld nach dem ArbSchG liegt bei maximal 25.000 Euro. Dieser Bußgeldrahmen kann aber deutlich überschritten werden, wenn die Behörden eine Gewinnabschöpfung vornehmen.
Verstöße gegen infektions- oder arbeitsschutzrechtliche Pflichten können auch im Hinblick auf das Kernstrafrecht unmittelbare Auswirkungen entfalten, da sie als Indiz für objektive Sorgfaltspflichtverletzungen gelten. Kommt es durch einen Verstoß zur Gesundheitsschädigung einer anderen Person oder gar zu deren Tötung, kann dies beispielsweise den Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB) bzw. fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) erfüllen. Strafbar im Sinne dieser Normen könnten wiederum die auf Seiten des Schlachtunternehmens für die Arbeitsabläufe Verantwortlichen sein.
Auch wenn sich das Infektionsgeschehen verlangsamt hat und insbesondere die Anzahl der festgestellten Neuinfektionen rückläufig ist, besteht die Gefahr der Verbreitung der Infektion fort. Die Belastung hängt maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen wie Isolierung, Quarantäne und physischer Distanzierung ab und kann örtlich hoch sein. Diese Warnung findet sich seit Wochen auf der Homepage des Robert Koch-Instituts. Die regionalen Vorgänge in Gütersloh zeigen, dass Unternehmen gut beraten sind, dies ernst zu nehmen – auch haftungsrechtlich.
Die Autoren sind Rechtsanwälte bei Redeker Sellner Dahs und leiten dort gemeinsam die Praxisgruppe Compliance. Dr. Michael Winkelmüller, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht ist spezialisiert auf Arbeitsschutz, Umweltschutz und Gesundheitsschutz. Dr. Daniel Neuhöfer, LL.M., ist Fachanwalt für Strafrecht.
Lockdown in Warendorf und Gütersloh: . In: Legal Tribune Online, 24.06.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41986 (abgerufen am: 12.10.2024 )
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