Im Mai werden die Grünen einen Parteitag virtuell im Netz abhalten. In NRW müssen Kandidaten für die Kommunalwahlen aufgestellt werden. Wie das in Zeiten der Pandemie demokratisch gelingt, erläutern Sebastian Roßner und Bastian Gierling.
Kein Büro scheint gegenwärtig so stark bevölkert wie das Homeoffice. Wer eigentlich an einer öffentlichen Versammlung teilnehmen wollte, wird von staatlichen Kontaktbeschränkungen nach Hause verbannt.
Das betrifft auch politische Veranstaltungen, wie Parteitage, auf denen die Parteien grundsätzliche Entscheidungen treffen und ihr Spitzenpersonal wählen. Ebenso betroffen sind auch die Versammlungen, auf denen die Bewerber für staatliche Wahlen aufgestellt werden. In Nordrhein-Westfalen steigt für solche Aufstellungsversammlungen gegenwärtig der Druck, denn dort sind für September Kommunalwahlen angesetzt. Die Frist, innerhalb derer die Wahlvorschläge dafür eingereicht werden müssen, endet bereits am 16. Juli 2020. Aber auch die Parteitage aller Parteien müssen turnusgemäß stattfinden.
Während etwa CDU und Linke ihre Bundesparteitage verschieben, haben Bündnis 90/Die Grünen angekündigt, ihren "Länderrat" genannten kleinen Parteitag am 2. Mai 2020 virtuell abhalten zu wollen. Bundesgeschäftsführer Michael Kellner pries das Vorhaben als "ersten komplett digitalen Parteitag". Ganz richtig ist das nicht. Bereits im Neolithikum des Internet, im Jahr 2000, haben die baden-württembergischen Grünen einen virtuellen Landesparteitag abgehalten. Obwohl die Erfahrungen mit digitaler Virtualität in der Epoche des 56k-Modems offenbar eher positiv waren, haben die Grünen das Experiment, soweit ersichtlich, bis jetzt nicht wiederholt.
Ob virtuelle Parteitage rechtlich erlaubt sind, ist umstritten. Unter den Skeptikern finden sich namhafte Stimmen. Dafür, dass virtuelle Parteitage dennoch zulässig sind, spricht zunächst die Zugehörigkeit der politischen Parteien zur großen Familie der Vereine. Soweit keine spezielleren Regelungen bestehen, gilt daher das Vereinsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Dass Vereine ihre Mitgliederversammlungen auch virtuell abhalten können, jedenfalls, sofern sie diese Möglichkeit in ihren Satzungen vorsehen, ist schon seit längerem anerkannt. Bereits 2011 hatte das Oberlandesgericht (OLG) Hamm eine entsprechende Entscheidung gefällt und damit die Stimmen in der Literatur bestätigt, die schon zuvor virtuelle Mitgliederversammlung für erlaubt hielten (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 27.09.2011, Az. I-27 W 106/11, 27 W 106/11).
Vereinsrecht wegen Corona geändert
Mittlerweile hat der Bundesgesetzgeber den einschlägigen § 32 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) mit Gesetz vom 27. März 2020 (BGBl. 2020 I S. 569 ff.) - zeitlich begrenzt bis zum Ende des Jahres 2021- in Teilen durch neue Regelungen ersetzt. Aus Artikel 2 § 5 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes ergibt sich, dass ein Vereinsvorstand, anders als von § 32 Abs. 1 S. 1 BGB vorgesehen, es auch ohne entsprechende Bestimmung in der Satzung den Mitglie-dern ermöglichen kann, "an der Mitgliederversammlung ohne Anwesenheit am Versammlungsort teilzunehmen und Mitgliederrechte im Wege der elektronischen Kommunikation auszuüben". Diese Norm könnte man zwar so verstehen, dass eine reale Zusammenkunft notwendig ist, an der einige Mitglieder dann elektronisch teilnehmen dürfen. Die Begründung des Gesetzentwurfs stellt aber klar, dass auch vollständig virtuelle Versammlungen möglich sein sollen (vgl. BT-Ds. 19/18110 S. 30).
An die politischen Parteien stellt das Recht allerdings besondere Anforderungen, wie sich vor allem aus Art. 21 Abs. 1 S. 3 Grundgesetz (GG) und den §§ 6 ff. Parteiengesetz (PartG) ergibt. Auf einen Nenner gebracht, sind nach diesen Normen die Parteien als Mitglieder-demokratien zu organisieren. Zentralorgan der parteiinternen Demokratie ist dabei der Parteitag nach § 9 PartG. Er kann als Mitgliederversammlung oder unter bestimmten Bedingungen als Vertreterversammlung stattfinden. Wenn § 8 Abs. 1 S. 4 PartG bestimmt, dass Ortsverbände mit mehr als 250 Mitgliedern oder großer räumlicher Ausdehnung statt einer Mitgliederversammlung auch eine Zusammenkunft von Delegierten abhalten können, deutet dies darauf hin, dass der Gesetzgeber bestimmten Schwierigkeiten begegnen wollte, die eben mit der Durchführung von Präsenzveranstaltungen zusammenhängen.
Indes: An Online-Veranstaltungen hat er dabei offenbar nicht gedacht, was allerdings angesichts einer Vorschrift aus dem Jahr 1967 wenig erstaunt. Ein zwingendes Argument gegen virtuelle Parteitage ergibt sich daraus jedenfalls nicht.
Parteitage ohne Emotionen
Das gewichtigste Argument gegen Online-Parteitage zielt vielmehr auf die Funktion derartiger Versammlungen. Sie sollen in demokratischer Weise den Willen der Partei in den wichtigen Fragen bilden und äußern. Es ist bekannt, dass die Regie der Parteivorstände zwar meistens die Richtung von Entscheidungen vorgibt und dabei darauf zielt, den Parteitag möglichst reibungslos ablaufen zu lassen. Werden die Regieanweisungen befolgt, salbt der Parteitag bereits im Vorfeld getroffene Entscheidungen mit einem Tröpfchen legitimationsstiftenden, demokratischen Öls. In wichtigen und umstrittenen Punkten aber findet die Willensbildung oft auf dem Parteitag selbst statt. Dabei zählen dann die Macht der Rede, die geschmeidige Absprache mit den Konkurrenten und die geschickte Mobilisierung der eigenen Unterstützer. Die letzte Entscheidung über den Vorsitz der CDU kann dafür als Beispiel dienen.
Die Willensbildung kann zwar nicht in gleicher Weise geschehen, wenn der Parteitag im virtuellen Raum stattfindet. Daraus folgt aber nicht, dass ein virtueller Parteitag undemokratisch wäre. Es handelt sich vielmehr um eine neuartige, weniger mit Emotionen aufgeladene, eben andere Form einer demokratischen Versammlung.
Dabei stehen virtuelle Parteitage selbstverständlich unter denselben Bedingungen wie Präsenz-Parteitage: Gleicher Zugang für alle Berechtigten, Rede- und Antragsrechte sowie freie und gleiche - bei Wahlen auch geheime - Abstimmungen sind Kernelemente eines demokratischen Parteitages. Dies alles muss durch geeignete Organisation und Technik gewährleistet werden.
Wahlen noch hinreichend transparent?
Einen Fallstrick hat aber möglicherweise das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Wahlcomputerurteil aus dem Jahr 2009 gespannt. Dort untersagte es das Gericht, Wahlcomputer eines bestimmten Typs für die Bundestagswahlen einzusetzen, und zwar mit der Begründung, dies verstoße gegen die Öffentlichkeit der Wahl, den es aus Art. 38 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG ableitet (vgl. BVerfG, Urt. v. 03.03. 2009, Az. 2 BvC 3, 4 /07).
Das BVerfG versteht darunter, dass es grundsätzlich für jeden Wähler nachvollziehbar sein soll, ob und wie die eigene Stimme erfasst und wie die insgesamt abgegebenen Stimmen gezählt werden. Unter welchen Bedingungen elektronische Verfahren der Stimmabgabe dieser weitgehenden Forderung nach Transparenz gerecht werden können, wird diskutiert.
Es spricht aber Manches dagegen, dass Wahlen auf Parteitagen einem derart strengen Maßstab überhaupt zu genügen haben. Denn innerparteiliche und staatliche Demokratie müssen zwar kompatibel sein, da staatliche Demokratie in den Parteien beginnt. Sie sind aber nicht in allen Ausprägungen gleich. Der Gesetzgeber und die Parteien können es im Parteiengesetz und in den Parteisatzungen stärker gewichten, dass eine möglichst große Zahl von Parteimitgliedern an Wahlen teilnehmen kann und dafür Einbußen an der Transparenz des Wahlprozederes in Kauf nehmen. Damit virtuelle Parteitage rechtssicher abgehalten und dort vor allem auch Wahlen veranstaltet werden können, sollte der Gesetzgeber das Parteiengesetz jedoch entsprechend anpassen.
Virtuelle Kandidaten-Aufstellungen: Gesetzgeber gefragt
Noch schwieriger ist die Lage bei dem Thema virtueller Versammlungen zur Aufstellung von Bewerbern für staatliche Wahlen. Das Parteiengesetz fordert in § 17 zwar lediglich, dass die Kandidaten in geheimer Wahl aufgestellt werden. Das Übrige wird in den jeweiligen Wahlgesetzen geregelt (etwa § 21 Bundeswahlgesetz, § 18 Landeswahlgesetz NRW, § 17 Kommunalwahlgesetz NRW).
Anders als die Parteitage unterliegen Versammlungen zur Aufstellung von Kandidaten für Bundes-, Landtags- oder Landrats- und Bürgermeisterwahlen sowie für die Wahlen der Kommunalparlamente aber nicht dem Vereinsrecht des BGB, das Online-Versammlungen zulässt. Es handelt sich vielmehr um sogenannte Wahlvorbereitungshandlungen, welche die erste Stufe der staatlichen Wahlen bilden. Daher spricht viel dafür, dass hier die verfassungsrechtlichen Wahlgrundsätze gelten und damit auch die Öffentlichkeit der Wahl, das heißt die Transparenz des Wahlverfahrens. Falls es technisch nicht gelingt, die Verfahren, in denen Stimmen erfasst und ausgezählt werden, für alle Teilnehmer der virtuellen Versammlung hinreichend nachvollziehbar und überprüfbar zu machen - ähnlich wie das bei einer Wahl mittels Stimmzettel der Fall ist - sind virtuelle Aufstellungsversammlungen dann wohl rechtlich unzulässig.
Etwas anderes könnte sich allerdings aus der gegenwärtigen COVID-19-Pandemie oder zukünftigen, ähnlichen Notlagen ergeben, falls nämlich anstehende Wahlen über einen längeren Zeitraum hinweg nicht stattfinden können. Dann könnte die demokratische Einbuße durch die Verschiebung der Wahl letztlich größer sein, als wenn man ausnahmsweise Abstriche bei der Transparenz der Kandidatenwahl machte und virtuelle Aufstellungs-versammlungen zuließe, um damit die eigentliche Wahl zu ermöglichen. Der Gesetzgeber müsste dafür aber entsprechende Sonderregelungen schaffen. Diese sollten im Grundgesetz sowie den Landesverfassungen durch eine entsprechende Notfallklausel abgesichert werden, um den Konflikt mit dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl bereits auf Ebene der Verfassung zu lösen.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner arbeitet als Rechtsanwalt in der Kanzlei LLR Rechtsanwälte in Köln. Einer seiner Schwerpunkte ist das Staats- und Verfassungsrecht.
Der Autor Bastian Gierling ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner bei LLR Rechtsanwälte in Köln. Seine Tätigkeitsschwerpunkte sind das Verwaltungsrecht, Bau- und Planungsrecht, Vergaberecht sowie das Kommunalrecht.
Politische Willensbildung in der Coronakrise: . In: Legal Tribune Online, 17.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41332 (abgerufen am: 09.12.2024 )
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