Der Bundestag hat seine ihm verfassungsrechtlich zugewiesene Rolle in der Pandemie noch nicht gefunden. Er ermöglicht und begleitet das Regieren per Verordnung und zögert, die Ermächtigungsgrundlagen für die Corona-Verordnungen nachzubessern.
Wenn man den drei Staatsgewalten Rollen beim Fußball zuweisen würde, würde die Exekutive außerhalb des Platzes für Organisation und Ordnung sorgen und die Judikative das Schiedsrichtergespann stellen. Die Parlamentarier aber stünden auf dem Feld. Denn "entscheidend is auf’m Platz", wusste schon Alfred Preißler, langjähriger Kapitän von Borussia Dortmund – im Fußball wie in der Demokratie. Im ersten halben Jahr der Pandemie standen allerdings vorwiegend Funktionäre und Ordner auf dem Platz. Holprige Bund-Länder-Runden und rustikal einsteigende Ministerpräsidenten prägten das Bild, eingerahmt durch mehrheitlich freundlichen parlamentarischen Beifall von der Seitenlinie.
Dem demokratischen Spielfluss hat diese verkehrte Rollenverteilung allerdings nicht gut getan, die Schiedsrichter mussten oft eingreifen und Blutgrätschen wie die Beherbergungsverbote sanktionieren, mancher Zuschauer wandte sich ganz ab. Es ist daher zu begrüßen, dass die Rolle der Parlamente in der Pandemie nach über einem halben Jahr nun endlich breiter diskutiert wird. Den Anlass bieten die Pläne aus dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) für ein drittes Bevölkerungsschutzgesetz. Allerdings sind die zugrunde liegenden staatsorganisationsrechtlichen Fragen sperrig und die notwendigen Differenzierungen für die mediale Öffentlichkeit wenig geländegängig. Es sind zwei Problemkreise auseinanderzuhalten:
Welche "epidemische Lage"?
Der erste Stein des Anstoßes ist der durch das erste Bevölkerungsschutzgesetz im März 2020 geschaffene und durch das zweite Bevölkerungsschutzgesetz nochmals erweiterte § 5 Abs. 2 Infektionsschutzgesetz (IfSG). Wenn der Deutsche Bundestag nach § 5 Abs. 1 S. 1 IfSG eine "epidemische Lage von nationaler Tragweite" feststellt, darf das BMG Rechtsverordnungen erlassen, die "Ausnahmen" und "Abweichungen" von Parlamentsgesetzen vorsehen. Der Bundestag hat den Feststellungsbeschluss Ende März getroffen, und seither sind diverse solcher Rechtsverordnungen erlassen worden. Ihr Rang in der Normenhierarchie und das rechtsdogmatische Schicksal der betroffenen formellen Normen sind unklar, die Verfassungswidrigkeit von § 5 Abs. 2 IfSG kaum noch umstritten. Denn Art. 80 Abs. 1 GG lässt zwar unter engen Voraussetzungen gesetzesvertretende Verordnungen zu, aber keine gesetzliche Blankovollmacht für ein Ministerium von über 1000 Vorschriften weitgehend ohne begrenzende Anforderungen abzuweichen.
§ 5 Abs. 2 IfSG schwächt vor allem die Opposition, für die das Parlament der entscheidende Ort für die Mitwirkung bei und die Kritik an der Krisengesetzgebung ist. Vor allem von dort kam daher auch die Forderung, zumindest den Beschluss zur "epidemischen Lage von nationaler Tragweite" nach § 5 Abs. 1 S. 2 IfSG aufzuheben – auch um dem fatalen Eindruck eines Ausnahmezustandes entgegenzuwirken, der nicht in den üblichen, von der Verfassung zur Verfügung gestellten Verfahren und Formen bewältigt werden kann. Die Aufhebung gem. § 5 Abs. 1 S. 2 IfSG ist aber nicht erfolgt, denn der Bundestag befand sich in einem Dilemma, das er selbst verursacht hat.
Auf der einen Seite liegen die Voraussetzungen für eine "epidemische Lage" seit Mitte April nicht mehr vor – Voraussetzung ist nämlich nicht eine individuelle Gesundheitsgefährdung, sondern eine systemische Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens, die trotz steigender Zahlen bislang nicht besteht. Auf der anderen Seite hätte die Aufhebung des Beschlusses fatale Signale an das Partyvolk und verschwörungstheoretische Irrlichter gesetzt, dass das Virus so schlimm nicht ist oder sogar gar nicht existiert. Der Unterschied zwischen der "epidemischen Lage" im Rechtssinne und der "Epidemie" im tatsächlichen Sinne wäre kaum vermittelbar gewesen.
Alles bleibt so verfassungswidrig wie es ist
Mit Schreiben vom 19. Oktober 2020 an die "Kolleginnen und Kollegen" hat nunmehr auch der Bundestagspräsident (also gewissermaßen der parlamentarische Spielführer) eine Stärkung des Parlaments gefordert, "um den Eindruck zu vermeiden, Pandemiebekämpfung sei ausschließlich Sache von Exekutive und Judikative".
Diesem Anliegen wird der Entwurf des dritten Bevölkerungsschutzgesetzes aber nicht gerecht. Der zentrale § 5 IfSG soll nämlich nicht verändert werden. Das hat zwar zur Folge, dass zum 31. März 2021 die gesetzesvertretenden Rechtsverordnungen nach § 5 Abs. 4 S. 1 IfSG außer Kraft treten würden. Aber § 5 Abs. 2 IfSG selbst ist nicht befristet. Wenn tatsächlich geplant wäre, das Rechtsverordnungsregime auslaufen zu lassen, müsste der Entwurf des dritten Bevölkerungsschutzgesetzes ja vorsehen, dass die in den Rechtsverordnungen geregelten Inhalte in die jeweiligen Gesetze überführt werden – jedenfalls wenn man unterstellt, dass sie zur Pandemiebekämpfung wirklich so wichtig und dringlich sind, wie es das Ministerium suggeriert. Aber nichts dergleichen findet sich in dem Referentenentwurf. Das nährt die Vermutung, dass die Frist in § 5 Abs. 4 S. 1 IfSG im nächsten Jahr dann doch noch verlängert werden wird und alles so verfassungswidrig bleibt wie es ist.
Sollte es so kommen, werden auch die drei insoweit bereits geübten Fraktionen von FDP, Linken und Bündnis90/Die Grünen Farbe bekennen und einen gemeinsamen, mit dem Antrag auf einstweilige Anordnung verbundenen Normenkontrollantrag gegen § 5 Abs. 2 IfSG stellen müssen. Denn in dieser für das verfassungsrechtliche Gefüge so fundamentalen Frage bedarf es dringend rechtlicher Klarheit.
Es drohen verfassungsrechtliche Gewöhnungseffekte
Eine verfassungsgerichtliche Klärung ist auch deshalb angezeigt, weil schon jetzt Verstetigungs- und Gewöhnungseffekte drohen. Erst kürzlich hat der Bundestag einen neuen § 52 Abs. 4 (Bundeswahlgesetz) BWahlG beschlossen, der das Bundesministerium des Innern ermächtigt, im Falle einer Naturkatastrophe oder eines ähnlichen Ereignisses höherer Gewalt, durch Rechtsverordnung von den Bestimmungen über die Aufstellung von Wahlbewerbern abweichende Regelungen zu treffen, um die Benennung von Wahlbewerbern ohne Versammlungen in Präsenz zu ermöglichen. Das soll zwar, anders als bei § 5 Abs. 2 IfSG, "mit Zustimmung des Bundestages" geschehen. Aber warum kann der Bundestag ein von ihm selbst erlassenes Gesetz nicht auch selbst ändern, statt einer ministeriellen Rechtsverordnung zuzustimmen, die von diesem abweicht?
Das Grundgesetz (GG) trennt kategorial zwischen Gesetz und Rechtsverordnung, und über diese Unterscheidung darf der Gesetzgeber schon wegen der "grundlegende[n] Verschiedenheit der Kontroll- und Verwerfungskompetenzen" nicht frei disponieren (BVerfGE 114, 196/237). Auch die Funktion des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens, das die Partizipation der Opposition im Bundestag und ggfs. auch im Bundesrat ermöglicht, steht auf dem Spiel. Dass der Bundestag diese Befugnisse dann bei "unüberwindlichen Hindernissen" auch noch auf den Wahlprüfungsausschuss soll verlagern können (§ 52 Abs. 4 S. 2 BWahlG), macht die Sache wegen der damit verbundenen Beschneidung von Abgeordnetenrechten (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) nicht besser.
Corona-Verordnungen nehmen Millionen von Nicht-Störern in Anspruch
Die Diskussion darüber, dass der Bundestag noch nicht richtig "auf’m Platz" ist, hat aber noch eine zweite Dimension: Decken die in den §§ 28-32 IfSG enthaltenen gesetzlichen Ermächtigungen tatsächlich die weitreichenden Grundrechtseinschränkungen durch die sog. Corona-Verordnungen? Hier geht es um die beim allgemeinen Parlamentsvorbehalt (Art. 20 Abs. 2, 3 GG) zu verortende Forderung, dass der parlamentarische Gesetzgeber die grundrechtswesentlichen Fragen selbst regeln muss. Daran bestehen Zweifel, denn die genannten Ermächtigungsgrundlagen sind nur an "Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider" adressiert, und nur dann dürfen nach § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG etwa "Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen" beschränkt oder verboten werden. Die Corona-Verordnungen nehmen also Millionen von Nicht-Störern in Anspruch. Das ist nicht prinzipiell unzulässig, bedeutet aber einen so schwerwiegenden Grundrechtseingriff, dass es einer gesetzlichen Regelung mit hinreichend präzisen materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Anforderungen bedarf.
Insoweit stellen sich komplizierte Fragen eines vom traditionellen Gefahrenabwehrrecht zu unterscheidenden Risikoverwaltungsrechts, das anders als etwa im Atomrecht nicht Anforderungen an einzelne Anlagen regelt, sondern die gesamte Bevölkerung auch unabhängig von individueller Gefährlichkeit adressiert. Zudem müssen die sehr diffizilen Fragen des Entschädigungsrechts geklärt werden. Die Materie lässt sich also nicht mit einem Schnellschuss regeln, sondern bedarf sorgfältiger fachlicher Vorbereitung. Aber man hätte nach über einem halben Jahr Pandemie erwarten dürfen, dass der Bundestag das Problem zumindest angeht, etwa durch die Einsetzung einer Fachkommission. Das würde auch den Gerichten die Nachsichtigkeit erlauben, die unzureichenden Ermächtigungsgrundlagen für einen Übergangszeitraum weiter anzuwenden.
Der Bundestag ist also in der Pandemie nach wie vor nicht "auf’m Platz", und es gibt auch nur zaghafte Signale, dass er sich langsam warmläuft und seine Einwechslung vorbereitet.
Der Autor Prof. Dr. Thorsten Kingreen ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg. Er war von den Fraktionen Bündnis90/Die Grünen und der FDP benannter Einzelsachverständiger im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages. Für kritische Diskussion des Textes dankt er Marje Mülder.
Die Parlamente in der Pandemie: . In: Legal Tribune Online, 21.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43170 (abgerufen am: 06.12.2024 )
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