Über Sinn und Unsinn der Impfpflicht streitet der Bundestag ab Mittwoch. Die Omikron-Variante könnte dabei die Vorzeichen der Diskussion ändern. Dies betrifft auch die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Pflicht zur Impfung.
Drei Pläne von Bundestagsabgeordneten sind bislang bekannt, grob zusammengefasst: Impfpflicht ab 18 Jahren oder ab 50 Jahren – oder eben gar keine Impfpflicht. Die dritte Variante gewinnt unlängst an Zulauf. Grund dafür ist vor allen Dingen die Omikron-Variante, die inzwischen in Deutschland herrschend ist. Sie steht der Impfpflicht in zwei Punkten entgegen: Der Impfschutz gegen Omikron ist geringer, gleichzeitig ist Omikron weniger gefährlich. Angesichts dieses aktuellen Erkenntnisstandes muss die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Impfpflicht neu bewertet werden:
Eine Impfpflicht greift in Grundrechte ein – jedenfalls in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit und der allgemeinen Handlungsfreiheit. Deshalb muss sie verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein: Mit ihr muss ein legitimes Ziel verfolgt werden, sie muss für die Zielerreichung geeignet, erforderlich und angemessen sein.
Legitime Ziele gibt es viele – aber ist die Impfung dafür geeignet?
Der Schutz eines Impfverweigerers vor sich selbst ist kein verfassungsrechtlich legitimes Ziel. Denn die bloße eigenverantwortliche Selbstgefährdung muss der Staat in der Regel hinnehmen, möge sich der Einzelne auch unvernünftig verhalten. Anders sieht es mit der Fremdgefährdung aus. Die Weitergabe des Virus an andere durch Ausrottung desselben ("No-Covid"-Strategie) völlig zu beenden oder zumindest zu reduzieren, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, sind verfassungsmäßig legitime Ziele. Daneben ist der Schutz des Gesundheitssystems vor Überlastung zu nennen. Und auch das Ziel, freiheitseinschränkende Anti-Corona-Maßnahmen, wie Lockdown, Schulschließungen oder die Maskenpflicht womöglich in Zukunft überflüssig zu machen.
Alle wollen diese Ziele erreichen – für die Verfassungsmäßigkeit ist aber zu prüfen, ob die Impfung auch geeignet ist, zumindest eines der Ziele zu fördern. Spätestens, seit Omikron die vorherrschende Variante ist, ist die Ausrottung des Virus illusorisch. Eine No-Covid-Politik hätte nach Ansicht führender Virolog:innen wegen der neuen hoch infektiösen Virusvariante keine Chance. Die Impfung ist für diese Zielerreichung also nicht geeignet.
Geeignetheit der Impfung muss auf den Prüfstand
Schwieriger ist die Frage der Reduzierung der Virusweitergabe an Mitmenschen zu beurteilen. "Geimpfte sind weniger ansteckend als Ungeimpfte". Dieses Argument war stets die wichtigste Säule für die Begründung der Impfpflicht – gekoppelt hieran auch die moralische Entrüstung über Ungeimpfte. Und in der Tat: Wer Kinder oder Personen, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen können oder auch Geimpfte im Falle von Impfdurchbrüchen, gefährdet, stellt sein eigenes (vermeintliches) Wohl über dasjenige anderer.
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse stützten das Argument. So formulierte das Robert Koch Institut (RKI) im Mai 2020, dass Geimpfte für das Infektionsgeschehen "keine wesentliche Rolle mehr spielen" würden. Diese Einschätzung wurde jedoch mit der Delta-Variante zweifelhaft und ist mit der Omikron-Welle nun völlig überrollt worden.
Kernargument der Impfkampagne zerbröselt
Inzwischen vermeldet das RKI, das Verbreitungsrisiko könne "derzeit noch nicht bestimmt werden". Es müsse davon ausgegangen werden, dass "Menschen (…) trotz Impfung PCR-positiv werden und dabei auch Viren ausscheiden und infektiös sind." Auf LTO-Anfrage verweist das RKI zwar auf eine neue Studie, nach der es nach einer Boosterimpfung zu einer Reduktion des Verbreitungsrisikos komme. Doch weiter heißt es gegenüber LTO: "Welches Ausmaß diese Transmissionsreduktion bei dreifach geimpften Personen unter Omikron hat, ist derzeit unbekannt." Es lägen "noch nicht genug Daten vor". Damit kann nach derzeitigem Stand die Geeignetheit der Impfung für das Ziel der Reduzierung der Virusverbreitung nicht seriös bejaht werden. Das dürfte auch unter Berücksichtigung der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers für die Beurteilung der Wirksamkeit der Impfung gelten.
"Die Impfung schützt das Gesundheitssystem vor Überlastung". Diese zweite Begründungsäule für die Impfpflicht ist ebenfalls brüchig, allerdings nicht in gleichem Ausmaß. Zwar schütze eine doppelte Impfung vor Omikron nur noch reduziert, doch sei nach einer Booster-Impfung eine "gute Wirksamkeit" gegenüber Omikron festgestellt worden, teilt das RKI auf seiner Website mit. Gegenüber LTO verweist es auf eine Studie, die eine 70-prozentige Wirksamkeit gegenüber symptomatischen Infektionen mit der Omikron-Variante belege. Mithin dürfte nach aktuellen Erkenntnissen gesichert sein, dass Impfungen zu weniger Krankenhauseinweisungen führen und damit die Eignung für das Ziel der Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems außer Frage steht.
Erforderlichkeit der Impfpflicht ist fragwürdig
Allerdings muss verfassungsrechtlich auch das Gebot der Erforderlichkeit der Maßnahme beachtet werden. Dieses ist verletzt, wenn das Ziel der staatlichen Maßnahme auch durch ein anderes, gleich wirksames Mittel erreicht werden kann. Wenn auch Nichtstun zur Erreichung des Ziels führt, ist dies stets das mildere Mittel. Aktionismus ist kein verfassungsrechtliches Gut. Nicht notwendige Maßnahmen sind stets unverhältnismäßig.
Ist eine Impfung notwendig, weil weiterhin eine Überlastung des Gesundheitssystems droht? Zweifel hieran resultieren einerseits daraus, dass trotz in die Höhe schnellender Infektionszahlen die Zahl der Einweisungen auf Intensivstationen (Stand: 26. Januar 2022) stark rückläufig ist, das gilt auch für Ungeimpfte. Die Hospitalisierungsrate ist ebenfalls gesunken. Inwieweit dieses Phänomen mit der zeitlichen Differenz zwischen Krankheitsbeginn und möglichem schweren Verlauf zusammenhängt, kann hier nicht beurteilt werden.
Jedenfalls gilt als gesichert, dass die Omikron-Variante deutlich weniger gefährlich ist als vorherige Virus-Varianten, da es nicht so tief in die Lunge eindringt. Nach einer Untersuchung soll zum Beispiel das statistische Risiko, im Krankenhaus behandelt werden zu müssen, nur ein Drittel so hoch sein, wie bei einer Ansteckung mit der Delta-Variante. Entsprechend äußerte etwa Prof. Dr. Christian Drosten von der Berliner Charité die Hoffnung, Omikron werde dazu führen, dass Corona sich zu einem normalen Erkältungsvirus entwickele, neuerdings warnt er aber wieder vor neuen Mutationen. Rechtlich äußert der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier jüngst, es müsse geklärt werden, inwieweit Omikron weiter schwerwiegende Erkrankungen auslöse, ansonsten sei die Frage der Impfpflicht "nicht entscheidungsreif".
Ist das Ziel der "Schonung des Gesundheitssystems" verhältnismäßig?
Für die aktuelle Situation würde eine Impfpflicht keine Entlastung bringen. Es bedarf der Einschätzung von Politik und Wissenschaft, ob die Impfung notwendig ist, um künftige Wellen, die zu einer Überlastung des Gesundheitssystems führen könnten, zu brechen. Sofern eine Überlastung nicht mehr droht, dürfe es auch vertretbar sein, dieses Ziel mit demjenigen der Schonung des Gesundheitssystems auszutauschen. Auch dies ist ein legitimes Ziel. Da die Schonung aber von geringerer Relevanz ist als die Verhinderung der Überlastung, wäre die Frage der Verhältnismäßigkeit besonders streng zu prüfen.
Die Bedeutung des Ziels, in Zukunft einschneidende Anti-Corona-Maßnahmen zu verhindern, hat der Rechtswissenschaftler Prof. Hinnerk Wißmann Anfang Dezember deutlich herausgearbeitet: Die Impfpflicht ermögliche eine positive Freiheitsbilanz. Sie sei der "Weg zur Sicherung freiheitlicher Prinzipien"; ein Weg, um "aus der andauernden staatlichen Vollsteuerung des gesamten Lebensraums zu entkommen".
Auch für dieses Ziel stellt sich aber inzwischen die Frage nach der Erforderlichkeit der Impfung. Vor allem, ob nicht die geminderte Gefährlichkeit der Omikron-Variante an sich schon ausreicht, um perspektivisch die Beschränkung von Freiheitsrechten überflüssig zu machen. Trotz einer massiven Omikron-Welle sieht sich etwa die Niederlande aktuell im Stande, Lockerungen einzuführen. Wie weit dies gesundheitspolitisch vernünftig ist, vermag der Autor nicht zu beurteilen. Die Politik muss allerdings unter Einbeziehung von Epidemiologen die Frage diskutieren und im Falle einer Entscheidung pro Impfpflicht zumindest näher begründen, warum sie trotz der geringeren Gefährlichkeit von Omikron davon ausgeht, dass etwa im kommenden Herbst ohne Impfung wieder Freiheitsrechte eingeschränkt werden müssen.
Verhältnismäßigkeit schwerlich zu beurteilen
Bleibt noch das Herzstück der Grundrechtsprüfung, die Angemessenheit. Eine Impfpflicht wäre dann unverhältnismäßig, wenn die Nachteile der Pflicht gegenüber den Vorteilen deutlich überwiegen bzw. außer Verhältnis stehen. Hier wurde zuletzt über die Frage gestritten, ob der Irrglaube, die Impfung sei ein Gift, verfassungsrechtlich berücksichtigt werden muss oder das persönliche Empfinden von egozentrischen "selbsternannten Schamanen" in der Grundrechtsabwägung keine Rolle spielen darf, sondern allein rationale Gemeinwohlerwartungen.
Unabhängig hiervon haben die neuen Erkenntnisse zu Omikron auch zu Verschiebungen in der Frage der Verhältnismäßigkeitsdebatte geführt. Das Risiko von Spätfolgen der Impfung ist unverändert gering. Impfschäden sind sehr seltene Einzelfälle. Aber auch die möglichen vorübergehenden Impfreaktionen wie Fieber, Kopf- und Muskelschmerzen stellen erhebliche Grundrechtseingriffe dar.
Nach aktuellem Erkenntnisstand kann aber niemand vorhersehen, wie oft eine Impfung überhaupt erfolgen muss. Daher kann die Verhältnismäßigkeit der Angemessenheit der Impfpflicht nicht seriös beurteilt werden, meint der Rechtswissenschaftler Prof. Steffen Augsberg, der auch Mitglied des Deutschen Ethikrates ist. Auf Grundlage des aktuellen Wissensbasis sei eine Impfpflicht nicht zu rechtfertigen.
Allgemeine Impfpflicht schwer vertretbar
Die hier aufgeworfenen Fragen sprechen vorliegend tendenziell gegen eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren und höchstens für die Zulässigkeit der Impfpflicht für die Gruppe der über 50-Jährigen. Die Einbeziehung der jüngeren Ungeimpften wäre nur zu rechtfertigen, wenn diese Gruppe das Infektionsgeschehen vorantreiben würde. Doch dass Ungeimpfte wesentlich ansteckender sind als Geimpfte ist – wie ausgeführt – bislang nicht belegt. Daher fällt das Solidaritätsargument gegenüber Ungeimpften insoweit nach aktuellem Kenntnisstand weg. Da die Gruppe der 18- bis 49-Jährigen viel seltener von schweren Verläufen betroffen ist, könnte die vorgeschlagene Reduzierung der Impfpflicht auf die über 50-Jährigen bereits die eventuell drohende Überlastung des Gesundheitssystems verhindern. Eine altersmäßig eingeschränkte Impfpflicht wäre eine mildere Maßnahme gegenüber einer allgemeinen Impfplicht und daher verfassungsrechtlich geboten.
Weitergehend könnte indes auch eine Impfpflicht ab 50 Jahren vor allem mangels Erforderlichkeit der Maßnahmen für die Zielerreichung nicht notwendig und damit unverhältnismäßig sein. Ob dies der Fall ist, vermag der Autor nicht zu beurteilen.
Jedenfalls müssen die Abgeordneten des Bundestages in der Debatte die folgenden Fragen debattieren und die Antworten hierauf wissenschaftlich fundiert begründen, wenn am Ende eine verfassungskonforme Entscheidung über die Impfpflicht stehen soll:
- Inwieweit kann das Ziel der Verhinderung von Ansteckungen durch die Impfung erreicht werden? Sind Ungeimpfte nach aktuellen Erkenntnissen wesentlich ansteckender als Geimpfte?*
- Droht unter Omikron überhaupt noch eine Überlastung des Gesundheitssystems?
- Wenn ja, ist die Impfung erforderlich, diese zu verhindern, reicht dafür auch die Impfung von über 50-Jährigen aus?
- Ist aktuell absehbar, wie viele Impfungen für einen Schutz benötigt werden bzw. in welcher Frequenz eine Impfung für einen erheblichen Schutz sorgt? Was bringt eine nur auf eine Anzahl beschränkte Impfpflicht, wenn erwiesen sein sollte, dass regelmäßige Impfungen erforderlich sind?
- Wie lässt sich die Impfpflicht effektiv und sozial gerecht ausgestalten, sodass sie mehr bleibt als ein bloßer Appell? Für den Fall eines bloßen Appell-Gesetzes: Diente ein solches dem gesellschaftlichen Frieden oder wäre die Erosion staatlicher Autorität zu befürchten?
* Präzisierung der Frage am 27. Januar 2022, 10:52 Uhr
Geringere Wirksamkeit der Impfstoffe: . In: Legal Tribune Online, 26.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47326 (abgerufen am: 08.10.2024 )
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