Manche Supermärkte entsorgen Lebensmittel, obwohl sie noch genießbar sind. Menschen, die über Mauern klettern und das weggeworfene Essen aus den Containern holen, machen sich wohl strafbar. Staatsanwaltschaften und Gerichte aber sind offenbar erleichtert, wenn sie die "Lebensmittelretter" nicht bestrafen müssen.
Es gibt sie, die wohltätigen Bäcker, die übrig gebliebene Brötchen abends lieber an die Tafeln spenden, als sie wegzuwerfen. Aber nicht alle Mitglieder der Lebensmittelieferkette gehen so umsichtig mit Nahrung um und denken daran, dass viele Menschen zu wenig davon haben. Vor allem in vielen Supermärkten wird, obgleich die Situation sich sehr verbessert hat, auch heute noch Essen weggeworfen, das noch genießbar wäre.
Um diese Verschwendung von Lebensmitteln auf praktische Weise zu stoppen und gleichzeitig gegen die "Wegwerfgesellschaft" zu demonstrieren, klettern einige Menschen nachts über die Mauern oder Zäune der Supermärkte und nehmen sich die Lebensmittel aus den Mülltonnen, die der Händler zwar entsorgen wollte, die aber noch essbar sind.
"Containern" oder "Mülltauchen" nennen sie ihr Vorgehen. Manche Gruppen haben sich gar ein eigenes Netzwerk aufgebaut und verteilen die Fundstücke gelegentlich kostenlos oder gegen Spenden auf ihren Veranstaltungen. Auch wenn das Essen weggeworfen wurde, machen die selbsternannten "Lebensmittelretter" sich wohl strafbar. Der bisherige Umgang der deutschen Justiz mit ihnen aber überrascht – ganz im Sinne der weihnachtlichen Botschaft von Nächstenliebe und Fürsorge.
"Da fragt man sich, warum die das wegwerfen"
Die meisten Märkte hätten ihre Müllbehälter jedoch abgeschirmt oder in Käfigen eingeschlossen, sagt eine erfahrene Containerin, die zuletzt 2013 im Hinterhof eines Supermarktes war. "Es gab einen Laden, wo man immer an die Container heran kam, auch wenn er gut verbarrikadiert war und man klettern musste. Da waren aber die Lebensmittel je nach Wochentag ganz wunderbar."
Praktisch alles hätten sie und ihre Kollegen dort gefunden: Obst, insbesondere Bananen, Gemüse, Süßwaren wie Schokolade oder Kuchen in Kartons oder Verpackungen, die beschädigt waren. "Ich habe da mal einen Fruchtkuchen gefunden und eine wirklich teure Pralinenmischung in einer Metallbox. Auch lange haltbare Sachen wie Kaffee, nur wegen einer kleinen Delle. Oder Tiefkühlkost wie Sushi." Sämtliche Lebensmittel seien vollkommen in Ordnung gewesen. Verständnis für das Vorgehen der Märkte, die sich noch immer stark am Mindesthalbarkeitsdatum orientieren, hat die Frau nicht: "Da fragt man sich, warum die das wegwerfen."
Ein Supermarktmitarbeiter der Rewe Group, der mit der Entsorgung von Lebensmitteln vertraut ist , kann das kaum nachvollziehen. Seiner Meinung nach ist alles, was in die Mülltonnen kommt, verdorben oder völlig zerstört. "Sonst würden wir es nicht wegwerfen, sondern den Tafeln geben", versichert er. Allenfalls, wenn die Tafeln das Essen mal nicht abholten, könne es passieren, dass auch verwertbare Lebensmittel in die Tonne kämen. Auch er hat morgens bei Dienstantritt bereits aufgebrochene Container auf dem Hof vorgefunden. In Ordnung findet er das nicht. Aber jemanden anzeigen oder gar einen Strafantrag stellen würde er nicht: "Wir haben wirklich Besseres zu tun".
70 Tagessätze für die Mitnahme von Müll
Sein Arbeitgeber sah das zeitweise wohl anders. Die Rewe-Gruppe, zu der auch Penny gehört, stellte im Jahr 2013 Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs und Diebstahls, nachdem zwei Containerer im Januar des Jahres vor einem Rewe-Markt im rheinländischen Düren mit einem Karton voller Lebensmittel erwischt worden waren. Es kam zum Prozess vor dem Amtsgericht (AG) Düren, das die Containerer zunächst wegen der angezeigten Delikte zu Geldstrafen von 30 und 70 Tagessätzen à zehn Euro verurteilte (Urt. v. 19.02.2013, Az. 10 Ds 288/12). Eine hohe Strafe für die Mitnahme von Müll, den der Supermarktbetreiber offenbar gar nicht mehr haben wollte.
Beim unberechtigten Betreten eingefriedeter Grundstücke verwirklicht der Containerer den Tatbestand des Hausfriedensbruchs nach § 123 Strafgesetzbuch (StGB). Von einem entgegenstehenden Willen des Supermarktes wird man wohl ausgehen können. Verfolgt wird dieses Vergehen nur, wenn der Grundstückseigentümer einen Strafantrag stellt.
Bricht man dann auch noch einen verschlossenen Container auf, begeht man zusätzlich eine Sachbeschädigung, § 303 StGB. Sie ist schon ein relatives Antragsdelikt – theoretisch könnte die Staatsanwaltschaft dieses Vergehen also auch unabhängig vom Willen des Supermarktes verfolgen.
Das schwerste Vergehen, das im Raum steht, ist der Diebstahl. Ob die weggeworfenen Lebensmittel noch fremd im Sinne von § 242 StGB und damit diebstahlsfähig sind, richtet sich danach, ob der Markt das Eigentum an dem Essen aufgegeben und dieses damit herrenlos gemacht hat. Herrenlos wird eine Sache, wenn man den Besitzwillen daran aufgibt, § 959 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Wann die Supermarktbetreiber das tun, ist weder höchstrichterlich noch in der juristischen Literatur geklärt.
2/2: Kann man stehlen, was andere weggeworfen haben?
Einige Rechtsexperten gehen davon aus, dass der Supermarktbetreiber dem städtischen Müllentsorger eine Übereignung anbiete und daher bis zur Abholung des Abfalls das Eigentum an den weggeworfenen Lebensmitteln behalten wolle.
Andere verneinen eine solche Willenserklärung des Supermarktbetreibers. Sie berufen sich auf den objektiven Empfängerhorizont gemäß § 133 BGB: Ein verständiger Mensch würde die Entsorgung der Lebensmittel so interpretieren, dass dem Entsorger grundsätzlich gleichgültig sei, was mit dem Essen in der Tonne passiert. Dass er seinen Besitz aufgeben wolle, liege daher näher, als dass er das Eigentum an den weggeworfenen Lebensmitteln behalten wolle.
Auch wenn man der letztgenannten Ansicht folgt, muss man aber zugestehen, dass ein solcher Wille zur Dereliktion nicht anzunehmen ist, wenn der Entsorger eine persönliche Beziehung zu den weggeworfenen Gegenstände hat, wie zum Beispiel zu einer EC-Karte, deren Daten er nicht an jedermann weitergeben will. Hier will der ehemalige Inhaber sicher, dass die Stadt sie mitnimmt und gerade nicht eine beliebige andere Person (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 10.02.2011, Az. III-3 RVs 103/10).
Diebstahl ist möglich: Besitzwille bis zur Abholung
Übertragen auf die Lebensmittel der Supermärkte gibt es mehrere Gründe, die dafür sprechen, dass diese sich des Abfalls bis zur Abholung gerade nicht entledigen wollen.
Ein wichtiges Indiz ist es bereits, wenn die Waren besonders gegen Wegnahme gesichert sind, etwa durch ein Schloss an den Tonnen. Denn in den Containern könnten sich auch giftige und verschimmelte Lebensmittel befinden – würde der Supermarkt diese nicht unzugänglich aufbewahren, könnte er sich zivilrechtlich haftbar machen. Außerdem regelt das öffentliche Abfallrecht die öffentlich-rechtlichen Pflichten bezüglich des Umweltschutzes und ordnet den Besitz weggeworfener Sachen dem Inhaber der tatsächlichen Sachherrschaft zu – also hier dem Schlüsselinhaber.
Schließlich gibt es noch ein wirtschaftliches Argument: Der Handel will die Sachen, die er sonst verkaufen würde, nicht an jedermann verschenken, um den Marktpreis stabil zu halten.
Ein Diebstahl an den Sachen ist also zumindest formaljuristisch möglich. Wenn die selbsternannten Lebensmittelretter dann auch noch über die Mauer geklettert sind und den Container aufgebrochen haben, können sie sich sogar wegen besonders schweren Diebstahls strafbar machen. Allerdings ist das Regelbeispiel des § 243 StGB oft nicht erfüllt, da die entwendeten Sachen meist geringwertig im Sinne des §§ 243 Abs. 2, 248 a StGB sein werden, wobei die Grenze zwischen 25 und 50 Euro liegt.
Das Ermessen der Gerichte und der Staatsanwaltschaft
Bei alledem berücksichtigen aber offenbar auch die Strafverfolger, dass beim Containern eigentlich niemandem geschadet wird. Staatsanwaltschaften scheinen recht großzügig von ihrer Einstellungsmöglichkeit nach der Strafprozessordnung (StPO) Gebrauch zu machen, entweder nach § 170 StPO, weil sie eben keine Beweise finden, oder nach § 153 StPO wegen Geringfügigkeit.
In dem eingangs zitierten Verfahren im Rheinland gingen sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verurteilten in Berufung gegen das Urteil des AG Düren. Nun hatte das Landgericht Aachen über die Sache zu entscheiden. Doch es klärte die materiellrechtlichen Fragen am Ende nicht, sondern hob die Entscheidung der Vorinstanz am 25. Juni 2013 mit einem Einstellungsbeschluss wieder auf (LG Aachen, Az. 94 Ns 15/13).
Rewe hatte, wohl wegen der negativen Publicity, seinen Strafantrag am Morgen der Verhandlung wieder zurückgezogen. "Das war eine überraschende Entscheidung", zitierte die taz den Vorsitzenden Richter. Der Verurteilung wegen Hausfriedensbruchs als Antragsdelikt war damit die Grundlage entzogen. Das Verfahren wegen Diebstahls stellte das LG kurzerhand mit Zustimmung aller ohne jede Auflage ebenfalls ein – wegen Geringfügigkeit nach § 153 StPO. Offensichtlich habe die Kette kein Verfolgungsinteresse mehr, interpretierte der zuständige Richter das Zurückziehen des Strafantrags seitens Rewe laut taz. Das hatten er und die Staatsanwaltschaft auch nicht und verneinten ein öffentliches Interesse, die Sache weiter zu verfolgen.
Den darauf folgenden Applaus der Zuschauer sah der Richter wohl als Zustimmung zum eigenen Vorgehen an: "Nehmen wir mal an, dass der Beifall uns gilt“, sagte er schmunzelnd. "Damit schließen wir die Verhandlung, schöne Heimfahrt und guten Tag." Scheinbar hat auch die Justiz Besseres zu tun.
Anne-Christine Herr, Der Geist der Weihnacht - beim Containern: Sanft, aber herzlich . In: Legal Tribune Online, 01.01.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14208/ (abgerufen am: 24.04.2024 )
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