2/2: Kann man stehlen, was andere weggeworfen haben?
Einige Rechtsexperten gehen davon aus, dass der Supermarktbetreiber dem städtischen Müllentsorger eine Übereignung anbiete und daher bis zur Abholung des Abfalls das Eigentum an den weggeworfenen Lebensmitteln behalten wolle.
Andere verneinen eine solche Willenserklärung des Supermarktbetreibers. Sie berufen sich auf den objektiven Empfängerhorizont gemäß § 133 BGB: Ein verständiger Mensch würde die Entsorgung der Lebensmittel so interpretieren, dass dem Entsorger grundsätzlich gleichgültig sei, was mit dem Essen in der Tonne passiert. Dass er seinen Besitz aufgeben wolle, liege daher näher, als dass er das Eigentum an den weggeworfenen Lebensmitteln behalten wolle.
Auch wenn man der letztgenannten Ansicht folgt, muss man aber zugestehen, dass ein solcher Wille zur Dereliktion nicht anzunehmen ist, wenn der Entsorger eine persönliche Beziehung zu den weggeworfenen Gegenstände hat, wie zum Beispiel zu einer EC-Karte, deren Daten er nicht an jedermann weitergeben will. Hier will der ehemalige Inhaber sicher, dass die Stadt sie mitnimmt und gerade nicht eine beliebige andere Person (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 10.02.2011, Az. III-3 RVs 103/10).
Diebstahl ist möglich: Besitzwille bis zur Abholung
Übertragen auf die Lebensmittel der Supermärkte gibt es mehrere Gründe, die dafür sprechen, dass diese sich des Abfalls bis zur Abholung gerade nicht entledigen wollen.
Ein wichtiges Indiz ist es bereits, wenn die Waren besonders gegen Wegnahme gesichert sind, etwa durch ein Schloss an den Tonnen. Denn in den Containern könnten sich auch giftige und verschimmelte Lebensmittel befinden – würde der Supermarkt diese nicht unzugänglich aufbewahren, könnte er sich zivilrechtlich haftbar machen. Außerdem regelt das öffentliche Abfallrecht die öffentlich-rechtlichen Pflichten bezüglich des Umweltschutzes und ordnet den Besitz weggeworfener Sachen dem Inhaber der tatsächlichen Sachherrschaft zu – also hier dem Schlüsselinhaber.
Schließlich gibt es noch ein wirtschaftliches Argument: Der Handel will die Sachen, die er sonst verkaufen würde, nicht an jedermann verschenken, um den Marktpreis stabil zu halten.
Ein Diebstahl an den Sachen ist also zumindest formaljuristisch möglich. Wenn die selbsternannten Lebensmittelretter dann auch noch über die Mauer geklettert sind und den Container aufgebrochen haben, können sie sich sogar wegen besonders schweren Diebstahls strafbar machen. Allerdings ist das Regelbeispiel des § 243 StGB oft nicht erfüllt, da die entwendeten Sachen meist geringwertig im Sinne des §§ 243 Abs. 2, 248 a StGB sein werden, wobei die Grenze zwischen 25 und 50 Euro liegt.
Das Ermessen der Gerichte und der Staatsanwaltschaft
Bei alledem berücksichtigen aber offenbar auch die Strafverfolger, dass beim Containern eigentlich niemandem geschadet wird. Staatsanwaltschaften scheinen recht großzügig von ihrer Einstellungsmöglichkeit nach der Strafprozessordnung (StPO) Gebrauch zu machen, entweder nach § 170 StPO, weil sie eben keine Beweise finden, oder nach § 153 StPO wegen Geringfügigkeit.
In dem eingangs zitierten Verfahren im Rheinland gingen sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verurteilten in Berufung gegen das Urteil des AG Düren. Nun hatte das Landgericht Aachen über die Sache zu entscheiden. Doch es klärte die materiellrechtlichen Fragen am Ende nicht, sondern hob die Entscheidung der Vorinstanz am 25. Juni 2013 mit einem Einstellungsbeschluss wieder auf (LG Aachen, Az. 94 Ns 15/13).
Rewe hatte, wohl wegen der negativen Publicity, seinen Strafantrag am Morgen der Verhandlung wieder zurückgezogen. "Das war eine überraschende Entscheidung", zitierte die taz den Vorsitzenden Richter. Der Verurteilung wegen Hausfriedensbruchs als Antragsdelikt war damit die Grundlage entzogen. Das Verfahren wegen Diebstahls stellte das LG kurzerhand mit Zustimmung aller ohne jede Auflage ebenfalls ein – wegen Geringfügigkeit nach § 153 StPO. Offensichtlich habe die Kette kein Verfolgungsinteresse mehr, interpretierte der zuständige Richter das Zurückziehen des Strafantrags seitens Rewe laut taz. Das hatten er und die Staatsanwaltschaft auch nicht und verneinten ein öffentliches Interesse, die Sache weiter zu verfolgen.
Den darauf folgenden Applaus der Zuschauer sah der Richter wohl als Zustimmung zum eigenen Vorgehen an: "Nehmen wir mal an, dass der Beifall uns gilt“, sagte er schmunzelnd. "Damit schließen wir die Verhandlung, schöne Heimfahrt und guten Tag." Scheinbar hat auch die Justiz Besseres zu tun.
Anne-Christine Herr, Der Geist der Weihnacht - beim Containern: . In: Legal Tribune Online, 01.01.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14208 (abgerufen am: 12.11.2024 )
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