Nutzer sind Informationen von Anbietern in einem Umfang ausgesetzt, den sie nicht überblicken – im Fall von AGB und Datenschutzerklärungen oft zu ihrem Nachteil. Dabei ließe sich die Kenntnisnahme auch auf Algorithmen auslagern.
Jeder kennt das: Auf der Internetseite stört der "Cookie-Hinweis" gerade so lange, bis man den "OK-Button" gefunden hat. Auch das Häkchen zum Akzeptieren der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) vor einer Bestellung wird routinemäßig gesetzt. Zeit und Lust, sich die Klauseln durchzulesen, haben die allerwenigsten.
Nutzer ignorieren besonders bei digitalen Angeboten einen Großteil der für sie bestimmten Informationen. Der Gesetzgeber bekommt das Problem nur eingeschränkt in den Griff. AGB etwa müssen transparent sein. Eine informierte Entscheidung des Nutzers wird durch dieses Gebot der Transparenz aber kaum gefördert. Denn es greift nur, wenn es wenigstens ein abstraktes Interesse an der Information gibt. Das ist aber nicht der Fall. In seinem Urteil zur Facebook-Funktion „Freunde finden“ anerkennt auch der Bundesgerichtshof (BGH), dass Informationen ihren Zweck verfehlen können. Er hält fest, dass der automatisierte Versand von Einladungs-E-Mails durch Facebook an die Kontakte von bereits registrierten Nutzern nicht deshalb erlaubt war, weil die Nutzer hierauf in den Datenschutzhinweisen hingewiesen wurden. Denn trotz des Hinweises sei davon auszugehen, dass die Information im entscheidenden Moment nicht in das Bewusstsein der Nutzer vordringe.
Eine Selbstverständlichkeit ist dieses Argument nicht. Schließlich hätte der BGH diejenigen, die bereitgestellte Informationen schlicht nicht zur Kenntnis nehmen, auch schutzlos stellen können. Es besteht allerdings ein Anreiz dafür, das Problem anzugehen. Denn Information hat den Zweck, eine freie Entscheidung zu ermöglichen.
Freie Entscheidungen setzen Wissen voraus
Wer nach Alternativen zu einer auf Information beruhenden Entscheidung fragt, fragt nach Alternativen zur freien Entscheidung. Staatliche Regulierung von Vertragsinhalten würde die Vertragsfreiheit einschränken. Freie Entscheidungen setzen aber Wissen voraus. Wenn die freie Entscheidung des Nutzers jedoch auch am Nutzer selbst scheitert, muss eine Alternative zur Kenntnisnahme durch den Nutzer her. Nutzer könnten die Auseinandersetzung mit den für sie relevanten Informationen auch einfach auslagern.
Dieser Ansatz ist im analogen Umfeld nicht neu: Im Finanzbereich ist es etwa üblich, dass Anleger ab einer gewissen Komplexität Vermögensverwalter mit der Betreuung ihrer Gelder beauftragen. Die Auseinandersetzung mit den Chancen und Risiken der Investitionsobjekte wird hier ausgelagert auf den Verwalter. Dieser Gedanke lässt sich verallgemeinern. Es ist denkbar, die Risiken der eigenen Handlungen auch in anderen Bereichen extern bewerten zu lassen.
Auslagerung der Kenntnisnahme an Algorithmen
Dazu sind aber nicht zwingend andere Menschen notwendig – die Prüfung könnte auch durch einen "digitalen Berater" erfolgen. Erforderlich wäre hierfür lediglich, dass ein Nutzer "seinem" Algorithmus anhand einer Fragerunde mit seinem Risikoprofil, seinen Vorlieben und Abneigungen, Überzeugungen und Interessen füttert – ähnlich einem Bankkunden, der gegenüber seinem Berater angibt, ob er eine eher konservative oder risikofreudige Anlagestrategie fahren möchte. Im Anschluss könnte ein so "trainierter" Algorithmus umfangreiche AGB, Produkteigenschaften und Datenschutzbestimmungen für den Nutzer "lesen", und die Entscheidung des Nutzers durch Warnungen und Empfehlungen anleiten oder, wenn der Nutzer der Technologie vertraut, gleich selbst treffen.
Durch den Einsatz solcher individuell auf ihre Interessen eingestellten "Consumer-Algorithmen" könnten Nutzer wissensmäßig auch bei enormen Informationsmengen mit den Anbietern gleichziehen. Dass der Ansatz funktioniert, lässt sich schon heute zeigen: Bei großen Immobilientransaktionen etwa werten Unternehmen, die als Käufer auftreten, die Risiken aus Tausenden von Mietverträgen automatisiert mit der Hilfe von Algorithmen aus. Erschwingliche "Consumer-Algorithmen", die ähnliche Aufgaben für eine Vielzahl von Vertragstypen für Verbraucher übernehmen, müssen daher keineswegs ein bloßes Gedankenspiel bleiben.
Einer Einschätzung von Apples "Siri" würde derzeit zwar vermutlich niemand vertrauen. Ob Verbraucherschutzverbände ausreichend Ressourcen haben, um leistungsfähige Software auf die Beine zu stellen, ist ebenfalls unklar. Es dürfte aber wohl nur eine Frage der Zeit sein, bis ein Start-up sich der Entwicklung entsprechender Software annimmt – zumal die Nachfrage enorm sein dürfte, und sich ein solches Produkt leicht kommerzialisieren ließe.
Demokratisierung des Marktes durch Vernetzung
"Consumer-Algorithmen" müssten nicht darauf beschränkt bleiben, ihren Nutzer zu warnen. Kenntnis von Informationen allein genügt nicht immer. Sie nützt vor allem dann nichts, wenn keine Alternativen bereitstehen. Das wichtigste Beispiel dürften Nutzungsbedingungen von Smartphone-Software sein. Smartphones lassen dem Nutzer stets nur die Wahl, die Bedingungen zu akzeptieren oder mit der alten Software weiterzumachen. Was auch immer in den AGB steht, gilt. Hierin unterscheiden sich die Anbieter auch nicht, sodass die Wahl eines Konkurrenzprodukts ausscheidet. Das wäre anders, wenn die Algorithmen der Nutzer miteinander kommunizieren würden. Eine Software, die sichtbar macht, dass z.B. 7 von 10 Nutzern bestimmte AGB für inakzeptabel halten, könnte dabei helfen, Druck aufzubauen. Technologie-Anbieter könnten gezwungen werden, AGB und Datenschutzbestimmungen solange zu modellieren, bis sie für den Großteil der Kunden wieder annehmbar sind.
Wer ein solches Outsourcing von Kenntnisnahme oder sogar Entscheidungen auf Algorithmen für abwegig oder gar gefährlich hält, muss sich fragen lassen, ob es wirklich besser ist, die Nutzer, wie derzeit üblich, mit für sie unüberschaubaren Informationsmassen allein zu lassen. Informationen, die automatisiert durch einen auf die Interessen des Nutzers abgestimmten Algorithmus ausgewertet werden, nützen der Entscheidungsfreiheit jedenfalls mehr als Informationen, die fernab von Kenntnisnahme im Nirwana enden.
Der Autor ist Rechtsanwalt und berät im IT- und Datenschutzrecht.
Künstliche Intelligenz: . In: Legal Tribune Online, 28.12.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21605 (abgerufen am: 01.11.2024 )
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