Ausgerechnet an einen französischen Justizminister geht der European Legal Award für eine herausragende europäische Integrationsleistung, den die Carl Heymanns gemeinnützige Gesellschaft im Februar verleiht. Im LTO-Interview erzählt Geschäftsführerin Sybille Franzmann-Haag: von dem Sozialisten Badinter, 84 Artikeln für Europa und einem Preis für die Rückkehr von Visionen.
LTO: Europa steckt in einer tiefen und schon lange nicht mehr nur wirtschaftlichen Krise. Skepsis und das Gefühl, die Staatschuldenkrise nicht in den Griff zu bekommen, beherrschen die Stimmung in den Medien aller Mitgliedstaaten. Carl Heymanns gemeinnützige Gesellschaft, zu deren Gründungsgesellschafterin Wolters Kluwer Deutschland auch die LTO gehört, verleiht dennoch gerade jetzt den Carl Heymann Preis - European Legal Award für einen Beitrag zur europäischen Integration. Hat die derzeit eher düstere Entwicklung der Union Sie überrollt?
Franzmann-Haag: Ganz im Gegenteil, wir wollen mit dem Carl Heymann Preis - European Legal Award ein Zeichen setzen. Europa ist kein Status, es muss jeden Tag erarbeitet werden zwischen den Ländern. Es bedeutet Kontinuität und immer wieder Aufbauarbeit und Zusammenwachsen. Unsere gemeinnützige Organisation zeichnet Persönlichkeiten aus, die sich mit ihrem Lebenswerk um die Europäische Idee verdient gemacht haben.
LTO: Der Preis geht am 24. Februar 2013 an Robert Badinter, einen französischen Juristen. Hierzulande ist der ehemalige französische Justizminister, der 1981 die Todesstrafe abschaffte, nicht allzu bekannt. Wofür genau bekommt er diese Auszeichnung?
Franzmann-Haag: Robert Badinter hat nicht nur einen beeindruckenden Lebenslauf, er ist einer der stärksten Verfechter einer europäischen Verfassung. Er erhält den Preis für seinen Verfassungsvorschlag und für sein Lebenswerk als Anwalt, Politiker, Gelehrter, Philosoph, Präsident des Verfassungsrats, als Justizminister und als Mensch.
"Kein gewöhnlicher Jurist"
LTO: Sie ehren den gelernten Strafrechtler also weniger für ein konkretes Werk?
Franzmann-Haag: Jedenfalls nicht nur. Robert Badinter ist kein gewöhnlicher Jurist. Er ist vielseitig, überblickt das ganze Bild, das zeichnet ihn aus. Er ist heute 85*, er und seine Familie wurde wegen ihres jüdischen Glaubens verfolgt, sein Vater wurde 1943 im Konzentrationslager von den Nationalsozialisten umgebracht. Die Kriegskindheit hat ihn geprägt, das Leben in Angst, der Verlust. Aber ihn trieb nie Rachsucht, sondern jemand wie Robert Badinter will stets die Welt besser machen.
LTO: Ein Beispiel dafür ist, dass er großen Wert darauf gelegt hat, Klaus Barbie ein rechtsstaatliches Verfahren angedeihen zu lassen, dessen Kriegsverbrechen auch mit dem Leben Badinters auf schicksalhafte Weise verknüpft war.
Franzmann-Haag: In der Tat fiel ausgerechnet die Strafverfolgung von Klaus Barbie in Badinters Amtszeit. Der SS-Hauptsturmführer hatte 1943 persönlich den Befehl zur Deportation von Badinters Vater, der als russischer jüdischer Emigrant in Paris lebte, unterzeichnet. Der Vater war in das besetzte Polen verschleppt worden und kam im Vernichtungslager Sobibor ums Leben. Als sein Sohn 40 Jahre später in seinem Pariser Amtszimmer die Deportationsorder mit Barbies Unterschrift in Händen hielt, bestätigte ihn das nur in seinem Entschluss, dem Täter ein rechts-staatliches Verfahren angedeihen zu lassen.
Bis heute sucht er zwischen den Ländern Europas immer den Ausgleich, die Vereinigung, die Zusammenarbeit. Und es sind immer die gleichen Kernfragen um Kompetenz, Regelungsbefugnis, Staatsgefüge und Ordnung, die ihn beschäftigen. Und so hat er auch 2002 seinen Entwurf einer gemeinsamen Verfassung für Europa "Une constitution européenne" geschrieben.
"Hoffentlich auch Hilfe für den französisch-deutschen Dialog"
LTO: Wie kommt ein Strafrechtler dazu, einen Verfassungsentwurf vorzulegen?
Franzmann-Haag (lacht): "Einfach aus Vernunft", so erklärt Robert Badinter das mit einem Augenzwinkern. Er erkennt Notwendigkeiten. Es gibt einen roten Faden in Robert Badinters Lebenslauf: Er war stets Politiker, Philosoph und Jurist in gleichem Maß. Er hat nicht nur die Todesstrafe in Frankreich abgeschafft, er hat dies später auch in der französischen Verfassung verankern lassen.
LTO: Spielen bei der Verleihung auch politische Umstände eine Rolle? Der Preisträger Badinter ist ja nicht nur Jurist, sondern auch Franzose. Nach dem Regierungswechsel in Frankreich gilt auch die deutsch-französische Freundschaft, einer der wesentlichen Pfeiler der Stabilität der Union, als etwas angeschlagen.
Franzmann-Haag: Dass ein berühmter Franzose erwählt wurde, war etwas überraschend. Denn die Liste der Kandidaten war sehr lang. Aber es ist aus vielen Blickwinkeln gut, dass Robert Badinter der Preisträger für 2013 ist: Die Verfassung für Europa ist das Kernthema unserer Zeit. Dass es dem französisch-deutschen Dialog hilft, der ja so schlecht nicht ist, ist zu hoffen.
Für den Franzosen Robert Badinter und uns Deutsche schließt sich jedenfalls ein Kreis. Angesichts gerade seiner Lebensgeschichte, die das schwierigste Kapitel Europas spiegelt, ist es für alle Seiten doch bemerkenswert, dass er mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem zweiten Weltkrieg in der Frankfurter Paulskirche uns als Europäern etwas zur Einigkeit und zur Verfassung erklärt.
2/2: "Europa braucht wieder das große Bild vor Augen"
LTO: Was hätte denn Europa von einer gemeinsamen Verfassung?
Franzmann-Haag: Eine längst fällige Klärung der Frage der Subsidiarität, der Kompetenzen zwischen einer Regierung in Europa und den Regierungen der Mitgliedsländer. Idealerweise würden nur noch wenige starke Kompetenzen in Europa verbleiben, alles andere bei den nationalen Regierungen selbst. Momentan wird es wohl manchmal so empfunden, als verlaufe das umgekehrt.
LTO: Wie sieht die Vision aus, der Sie durch die Verfassung näher kommen wollen?
Franzmann-Haag: Es ist klar, dass wir in Europa von Anfang an einen verfassungsrechtlichen Überbau gebraucht hätten. Badinter hat einen Vorschlag mit 84 knappen Artikeln gemacht. Man kann natürlich darüber streiten, ob man zum Beispiel einen Präsidenten für Europa möchte.
Wichtiger ist aber, dass die Kompetenzen zwischen der europäischen Ebene und der Ebene der Mitgliedstaaten aufgeteilt werden. Vieles, was an Vorgaben aus Brüssel und Straßburg kommt, läuft mittlerweile Gefahr, als belastend, bürokratisch und zu detailverliebt empfunden zu werden.
LTO: Mehr großes Ganzes, weniger Details?
Franzmann-Haag: Ja. Das große Bild, das, was die Europäische Union darstellen soll, das scheint in den Hintergrund getreten zu sein. Dabei ist hier zuallererst Klarheit nötig. Es geht um die Kernkompetenzen, wie sich der Staatenbund aufstellen möchte. Die weitreichende Kompetenz der Kommission, initiativ Recht zu setzen, wo sie möchte, wird so sicher nicht bleiben.
LTO: Sie meinen eine nur subsidiäre Regelungskompetenz der Union?
Franzmann-Haag: Ja, das heißt: Erst wenn die Mitgliedsländer mit einer konkreten Aufgabe überfordert sind, erwächst aus dem Subsidiaritätsprinzip die Verpflichtung der übergeordneten Ebene Europa, sich der Aufgabe anzunehmen. Auf verschlungene Weise wird doch am Beispiel der Staatsschuldenkrise deutlich, dass Kern-fragen zur Solidarität, Subsidiarität und zur Kompetenzenverteilung nicht angegangen, geschweige denn gelöst wurden. Das ist nachzuholen.
"Persönlichkeiten aktivieren, die Europa längst leben"
LTO: Wie wollen Sie dazu beitragen?
Franzmann-Haag: Wir prämieren mit dem Carl Heymann Preis solche Initiativen, die praktisch zur vertieften Integration der Länder und zur Lösung der offenen Fragen beitragen. Wir möchten die gut ausgebildeten jungen Europäer aktivieren, die heute schon längst von der europäischen Freiheit, Freizügigkeit und dem Binnenmarkt profitieren. Wir wollen sie dafür gewinnen, sich mit uns jetzt an der Gestaltung des Europa von morgen zu beteiligen.
Es geht ja nicht mehr primär um den Frieden. Es muss eine Zukunftsvision etabliert werden: Da wollen wir hin. Keine Sonntagsreden. Wir wollen gut sein – im globalen Vergleich. Und da muss man sagen: Die Politik kann das nicht allein. Es bedarf der Mitwirkung von engagierten Privatpersonen, von Unternehmern und Unternehmen. Wir meinen vor allem die, die verstanden haben, dass sie auf das Potenzial des europäischen Binnenmarkts angewiesen sind.
LTO: Wie wirkt Ihre gemeinnützige Organisation daran mit?
Franzmann-Haag: Die Mitwirkung kann vielfältig sein. In unserem Forum zum Carl Heymann Preis – European Legal Award erarbeiten wir in einem kleinen, einflussreichen Kreis die Kernthemen in Europa – zusammen mit Gelehrten, Unternehmern, Politikern, Philosophen und Ökonomen. Wir möchten mit unseren Lösungen Handlungsmöglichkeiten für die Politik aufzeigen.
LTO: Sie werden also ganz konkrete Ergebnisse auch der Politik vorlegen?
Franzmann-Haag: Ja, die Ergebnisse stellen wir der Politik zur Verfügung, und wir publizieren sie. Wir arbeiten sehr konkret und machen Vorschläge. Wir vergeben zudem auch Forschungsprojekte an Hochschulen.
Reding, Skouris, Westerwelle: Die Verleihung in der Frankfurter Paulskirche
LTO: Können Sie schon verraten, wie die Feierlichkeiten am 24. Februar in der Paulskirche ablaufen werden und wer teilnehmen wird?
Franzmann-Haag: Die Verleihungszeremonie in Frankfurt findet vor über 650 geladenen Gästen statt. Die EU-Vizepräsidentin Viviane Reding, Bundesaußenminister Guido Westerwelle und andere wer-den Robert Badinter besonders würdigen. Zahlreiche hohe Amtsträger aus der Bundesrepublik und der Europäischen Union, wie auch der Präsident des Europäischen Gerichtshofs, Vassilios Skouris, werden unter den Gästen sein.
LTO: Geben Sie uns einen Tipp, wen Sie für 2014 auf der Nominier-ten-Liste haben?
Franzmann-Haag (lacht): Ganz sicher nicht! Erst einmal freuen wir uns auf den 24.Februar dieses Jahres - es gibt viel zu tun.
LTO: Frau Franzmann-Haag, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Sybille Franzmann-Haag ist Juristin und Geschäftsführerin der Carl Heymanns gemeinnützige Gesellschaft mbH in Frankfurt am Main.
Die Fragen stellte Pia Lorenz.
* Anm. d. Red.: Fälschlich enthielt der Text zunächst die Angabe, Robert Badinter sei 88 Jahre alt. Sybille Franzmann-Haag bat uns, diesen Fehler nachträglich zu korrigieren. Das ist geschehen am 20.02.2013, 14:25 Uhr.
Carl Heymann Preis für Robert Badinter: "Er will stets die Welt besser machen" . In: Legal Tribune Online, 04.02.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8067/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag