Die DDR hatte rund 12.000 Sportler gezwungen, leistungssteigernde Mittel einzunehmen. Muss die Bundesrepublik diese Menschen als Rechtsnachfolger der DDR entschädigen? Charlotte Hoppen zur Rechtsfrage, die das BVerwG am Mittwoch verhandelt.
In der ehemaligen DDR waren Hochleistungs- und Nachwuchssportler im staatlichen Auftrag systematisch gedopt worden. Mit dem "Staatsplanthema 14.25" verfolgte die DDR ab 1974 ein staatlich gelenktes Dopingprogramm. Um in internationalen Wettkämpfen zu bestehen, erhielten Leistungssportler von Trainern und Sportärzten Anabolika und andere leistungssteigernde Substanzen – oftmals ohne das Wissen der Sportler. Viele von ihnen waren sogar noch minderjährig. Die Staatssicherheit (Stasi) sorgte für die Geheimhaltung der Dopingprojekte und überwachte die daran beteiligten Personen. Das führte zwar zu vielen Medaillen bei insgesamt fünf Olympischen Spielen, aber auch zu vielen geschädigten Menschen, die heute noch unter massiven gesundheitlichen Folgen leiden.
Am Mittwoch geht es vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) um einen solchen Fall (Az. 8 C 6.23): Die klagende Frau war in den Jahren 1968 bis 1973 als damals zwölf- bis bis 17-Jährige in der ehemaligen DDR Leistungssportlerin im Kanufahren. Sie bekam in dieser Zeit verschiedene Dopingsubstanzen verabreicht, über genaue Dosierungen und Wirkstoffe ist aber nichts Näheres bekannt; vermutet wird in ihrem Fall der Einsatz von Oral-Turinabol und Steroiden. Dies führte zu erheblichen und bis heute anhaltenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen, unter anderem Nierenproblemen, einem Schlaganfall und einem unheilbaren Immundefekt. Die klagende Ex-Leistungssportlerin begehrt deshalb verwaltungsrechtliche Rehabilitierung als Opfer des DDR-Staatsdopings nach dem verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (VwRehaG).
Das VwRehaG eröffnet Opfern von Verwaltungsunrecht der ehemaligen DDR einen Weg, sich vom Makel persönlicher Diskriminierung zu befreien und soziale Ausgleichsleistungen in Anspruch zu nehmen. Das VwRehaG gehört zu den SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen für Opfer staatlicher Willkür, zum Beispiel für politische Häftlinge. Aber erfasst das VwRehaG auch das Zwangsdoping der damaligen DDR-Sportler? Genau um diese Frage geht es am Mittwoch in Leipzig.
War das DDR-Zwangsdoping ein Willkürakt?
Um die verwaltungsrechtliche Rehabilitierung zu erreichen, müsste das DDR-Zwangsdopingsystem für die betroffenen Sportler entweder einen Willkürakt oder politische Verfolgung im Sinne des § 1 Abs. 2 VwRehaG dargestellt haben. Nach § 1 Abs. 1 VwRehaG kann auf Antrag rehabilitiert werden, wer durch eine hoheitliche Maßnahme einen Vermögens- oder Gesundheitsschaden erlitten hat, wenn die Maßnahme mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar ist und ihre Folgen noch unmittelbar schwer und unzumutbar fortwirken.
Mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar sind gemäß § 1 Abs. 2 VwRehaG Maßnahmen, die in schwerwiegender Weise gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit oder der Verhältnismäßigkeit verstoßen haben und die der politischen Verfolgung gedient oder Willkürakte im Einzelfall dargestellt haben. Die Rehabilitierung kann dann zu Folgeansprüchen wie Geldentschädigungen führen (vgl. §§ 2, 3 VwRehaG).
Ob bzw. wann diese Voraussetzungen beim DDR-Zwangsdoping vorliegen, beantworten die damit befassten Gerichte und auch die für die Anträge zuständigen Rehabilitierungsbehörden bislang unterschiedlich, wie sich auch aus einer Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags ergibt.
VG Greifswald: Zwangsdoping ist staatlicher Willkürakt
Das Verwaltungsgericht (VG) Greifswald sah im Jahr 2020 in einem ähnlichen Fall das DDR-Zwangsdoping als Willkürakt im Sinne des § 1 Abs. 2 VwRehaG an (Urt. v. 28.12.2020, Az. 5 A 917/19 HGW): "Das erlittene Zwangsdoping ist mit den Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar. Willkürlich handelt ein Staatsorgan, wenn es sich über das Recht hinwegsetzt und damit die Rechtsordnung für sich als unverbindlich ansieht", so das VG Greifswald.
Den staatlichen Stellen der DDR sei bewusst gewesen, dass die Einnahme von Anabolika zu gesundheitlichen Schäden bei den betroffenen Sportlern führen konnte. In dieser ohne die Einwilligung der jugendlichen Sportler und ihrer Eltern eingegangenen Gesundheitsgefährdung liege eine bewusste Diskriminierung der Betroffenen, da anderen Bürgern der DDR ein ähnlicher gesundheitlicher Nachteil regelmäßig nicht zugemutet worden sei. Zwar habe die Verbesserung der sportlichen Leistung dem Wunsch der Betroffenen entsprochen. Ihnen sei aber die Maßnahme selbst und die damit verbundenen nachteiligen gesundheitlichen Risiken bewusst verheimlicht worden.
Einzelnen Sportlern erhebliche gesundheitliche Risiken in der Annahme zuzumuten, aufgrund daraus resultierender Erfolge im Spitzensport werde das Ansehen der DDR in der Welt gesteigert und die eigene Bevölkerung zufriedengestellt, stelle zudem einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit dar, urteilte das Greifswalder Gericht im Jahr 2020.
VG Potsdam: keine Verfolgung, keine Willkür
In dem Fall der Sportlerin, der am Mittwoch vor dem BVerwG verhandelt wird, hatte das Ministerium des Innern und für Kommunales des Landes Brandenburg den entsprechenden Antrag auf verwaltungsrechtliche Rehabilitierung hingegen abgelehnt. Zur Begründung führte es aus, rehabilitierungsfähig seien gemäß § 1 Abs. 2 VwRehaG nur Maßnahmen, die der politischen Verfolgung gedient oder Willkürakte im Einzelfall dargestellt haben. Hieran fehle es. Dem Urteil des VG Greifswald könne nicht gefolgt werden, heißt es in dem ablehnenden Bescheid.
Gegen diese Entscheidung hatte die Sportlerin geklagt. Das Verwaltungsgericht (VG) Potsdam wies die Klage jedoch ab (Urt. v. 24.04.2023, Az. 11 K 2576/21). Die Ex-Leistungssportlerin habe keinen Anspruch auf verwaltungsrechtliche Rehabilitierung wegen des DDR-Staatsdopings.
Die im "Staatsplanthema 14.25" manifestierte, staatlich zentral gesteuerte Verabreichung von Dopingmitteln stelle zwar eine hoheitliche Maßnahme dar und es bestehe auch kein Zweifel daran, dass diese Maßnahme in schwerwiegender Weise gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit verstoßen hat, so das Gericht. Auch gesundheitliche Schäden lägen offensichtlich vor, heißt es in dem Urteil, das LTO vorliegt.
Eine zentrale Voraussetzung aber fehlt laut dem VG Potsdam: Es liege weder politische Verfolgung noch ein Willkürakt vor. Das Staatsdoping in der DDR habe eine Steigerung des Ansehens der DDR durch besondere sportliche Erfolge bezweckt. Es habe aber nicht auf eine politische Verfolgung der Leistungssportler abgezielt. Willkür rechtfertige eine Rehabilitierung nur dann, wenn sie "im Einzelfall" zu bejahen sei. Ausgeschlossen sei damit die dem Dopingsystem generell anhaftende Willkürlichkeit. "Willkür im Einzelfall" sei nur zu bejahen, wenn die Maßnahme von der Tendenz und Absicht getragen sei, den Adressaten bewusst zu benachteiligen, so das Potsdamer Gericht. Es bedürfe einer bewussten Diskriminierung. Daran fehle es im Falle des staatlichen Dopings.
Diese Anforderungen an den Willkürbegriff hatte das BVerwG bereits im Jahr 2000 aufgestellt (Beschl. v. 25.07.2000, Az. 3 B 7.00), worauf das VG Potsdam in seiner Entscheidung verweist. In diesem Beschluss des BVerwG ging es auch um den Begriff der "Willkür im Einzelfall" nach § 1 Abs. 2 VwRehaG, allerdings nicht um staatliches Zwangsdoping.
Eine Geldentschädigung gab es bereits nach dem Dopingopfer-Hilfegesetz
Auch die Entscheidung des VG Greifswald überzeugte die Potsdamer Richter nicht: Es sei nicht erkennbar, warum die vom BVerwG aufgestellten Anforderungen an den Begriff der Willkür im Einzelfall nicht auf das Staatsdoping anwendbar sein sollten. Das habe das VG Greifswald selbst schon gar nicht ausgeführt.
Abschließend weist das Gericht noch darauf hin, dass die klagende Frau auch nicht rechtlos gestellt sei: Sie sei bereits als Opfer menschenverachtender Machenschaften der DDR-Staatsführung anerkannt worden und habe eine Geldentschädigung nach dem Dopingopfer-Hilfegesetz erhalten.
Zum Hintergrund: Mit dem im Jahr 2002 verabschiedeten Dopingopfer-Hilfegesetz wurde ein Hilfsfonds in Höhe von zwei Millionen Euro eingerichtet. Aus diesem vom Bundesverwaltungsamt verwalteten Fonds erhielten insgesamt 194 als anspruchsberechtigt anerkannte Personen einen Betrag in Höhe von jeweils rund 10.500 Euro. Der Fonds war damit ausgeschöpft, hatte jedoch nicht alle Opfer erfasst. Deshalb ist mit dem Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetz wieder ein Fonds eingerichtet worden. Zweck des Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetzes ist es nach Angaben des Bundesministeriums des Innern und für Heimat, den Dopingopfern der DDR außerhalb einer Rechtspflicht mittels eines pauschalierten Einmalbetrages eine finanzielle Hilfe zu gewähren, mit der gleichzeitig das erlittene Unrecht in der DDR moralisch als solches anerkannt wird.
Mit ihrer vom VG Potsdam zugelassenen Revision verfolgt die geschädigte Ex-Leistungssportlerin ihr Begehren nun vor dem BVerwG weiter (§ 134 VwGO). Sie ist der Auffassung, dass jedenfalls eine mittelbare politische Verfolgung darin liegt, dass die Nachwuchssportler durch das gesundheitsschädigende Doping zur Erreichung der staatspolitischen Ziele der DDR missbraucht worden seien. Auch ein Willkürakt im Einzelfall liege vor, denn das DDR-Zwangsdoping stelle keinesfalls ein Allgemeinschicksal und keine systemimmanente Maßnahme der DDR dar. Nun muss das BVerwG diese Fragen am Mittwoch klären.
BVerwG entscheidet zum Zwangsdoping in der DDR: . In: Legal Tribune Online, 26.03.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54209 (abgerufen am: 06.10.2024 )
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