Womöglich sind Männer, die sich dem Wehrdienst entziehen, für den Syrischen Staat Oppositionelle, die zu verhaften sind. Doch ob diese Vermutung für eine Anerkennung als Flüchtling reicht, muss erst das BVerwG klären.
Ein Mann verlässt Syrien, weil er im Krieg im eigenen Land nicht zum Militärdienst herangezogen werden will. Bekommt er den Status als Flüchtling oder nur den des subsidiär Schutzberechtigten? Diverse Verwaltungsgerichte (VG), Oberverwaltungsgerichte (OVG), der Europäische Gerichtshof (EuGH) und – soweit es durfte – auch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) befassen sich seit Jahren mit dieser Frage – und kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Nun ist noch einmal das BVerwG dran. Schon in der Pressemitteilung teilt das Leipziger Gericht mit, dass der nun zu entscheidende Fall – und die 25 ähnlich gelagerten, die ebenfalls terminiert sind – dem Gericht insgesamt die Gelegenheit gibt, einige offene Fragen zu klären.
Dabei scheint der Sachverhalt hinlänglich vertraut und es mag überraschen, dass die zugrunde liegenden Fragen noch immer nicht eindeutig geklärt sind. Denn in dem am kommenden Donnerstag zu entscheidenden Fall (Az. 1 C 21.21) hat ein Syrer eine sogenannte "Aufstockerklage" erhoben. Der Mann hatte Syrien im Herbst 2015 verlassen, um nicht zum Wehrdienst zu müssen, und bekam den Status des subsidiär Schutzberechtigten. Mit seiner Klage will er den besseren Status als Flüchtling erhalten.
Diesen hätten ihm in der Vergangenheit viele Gerichte zugesprochen – und viele nicht.
Angst vor Teilnahme am Bürgerkrieg als Fluchtgrund
Der Mann war in Syrien vom Wehrdienst zurückgestellt worden, um sein Studium abschließen zu können. Bei der Antragstellung in Deutschland hatte er als Fluchtgrund angegeben, dass er Angst hat, am Bürgerkrieg teilnehmen zu müssen – und deshalb seinen Militärdienst nicht leisten will.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hatte dem Kläger in diesem Fall lediglich den subsidiären Schutzstatus zuerkannt, den Asylantrag im Übrigen aber mangels drohender Verfolgung abgelehnt. Er habe nicht selbst Verfolgung erlitten, die ihn zur Ausreise gedrängt habe. Da er nur vor dem Bürgerkrieg geflohen sei, habe er keine Verfolgung zu befürchten, wenn er nach Syrien zurückkehrte. Jedenfalls fehle es an einer Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung, die er befürchte, und den im Gesetz beschriebenen Merkmalen, die einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründeten.
Das VG Berlin und das OVG Berlin-Brandenburg haben die beklagte Bundesrepublik Deutschland im Anschluss an eine Entscheidung des EuGH (Urt. v. 19.11.2020, Az. C-238/19) zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verpflichtet. Sie befanden, dem Kläger drohe Verfolgung aufgrund einer ihm wegen seiner Militärdienstentziehung vom syrischen Regime zugeschriebenen oppositionellen Haltung (OVG, Urt. v. 29.01.2021, Az. 3 B 109.18).
Wann besteht eine Verknüpfung?
Doch so klar sehen dies andere Gerichte und selbst das BVerwG nicht. Denn wer als Flüchtling anerkannt werden will, bei dem muss eine Verfolgungshandlung vorliegen oder befürchtet werden. "Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bedarf es immer der Feststellung einer Verbindung zwischen der Verfolgungshandlung und einem der im Gesetz genannten Merkmale", erläutert Susanne Schröder, Rechtsanwältin und Fachanwältin für Migrationsrecht in der Kanzlei Lerche, Schröder, Fahlbusch und Wischmann in Hannover. Die Anwältin vertrat den Fall, den das VG Hannover dem EuGH vorgelegt hatte.
Nun steht inzwischen wohl außer Frage, dass der Syrische Staat Männer im wehrpflichtigen Alter verhaftet und offenbar auch ohne Wehrdienstausbildung in den Bürgerkrieg schickt, wenn diese aus dem Ausland ins Land zurückkehren. Eine Verfolgungshandlung stellen die Richter und Richterinnen in den Asylprozessen zugunsten der Geflohenen also regelmäßig fest.
Doch werden die Männer verhaftet, weil sie eine Straftat begangen haben, als sie sich der Wehrpflicht entzogen haben? Dann wäre es eine Sachlage, wie sie auch in anderen Ländern durchaus üblich sein könnte. Oder ordnet das Regime diese Männer als Oppositionelle ein, denen womöglich auch unangemessene Behandlung drohen könnte, so dass eine Verhaftung an eine politische Verfolgung anknüpfen würde? Dann wäre ein gesetzliches Merkmal erfüllt, das zu einer Anerkennung als Flüchtling und nicht bloß als subsidiär Schutzberechtigter führen würde.
Darlegungspflicht beim Flüchtling
Der entsprechende Vortrag und die Darlegung obliegen dem Flüchtling – doch lässt sich durchaus die Frage aufwerfen, wie die Betroffenen selbst wissen und beweisen sollen, aus welchen Gründen der Syrische Staat die Verhaftungen vornimmt.
Der EuGH hat daher auf eine Vorlage des VG Hannover entschieden, "dass eine starke Vermutung dafür spricht, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie näher erläuterten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie genannten Gründe in Zusammenhang steht", heißt es in der Entscheidung (Urt. 19.11.2020, Az. C-238/19). Sprich: Es ist zugunsten des betroffenen Ausländers zu vermuten, dass in einem Bürgerkrieg eine Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund verknüpft ist. Es sei aber Sache der zuständigen nationalen Behörden, die Plausibilität dieser Verknüpfung in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände zu prüfen.
Wenn Zweifel verblieben – so war es die ständige Rechtsprechung des BVerwG – ging dies zulasten des Flüchtlings. Denn das Gericht musste die volle Überzeugung gewinnen, dass tatsächlich eine Verfolgung besteht. Ohne diese vollständige Überzeugung – und zwar auch von der Verknüpfung – blieb der Ausländer darlegungspflichtig und konnte nicht als Flüchtling anerkannt werden.
Wie diffus darf es sein?
Doch hat die Einschätzung des EuGH etwas an dieser ständigen Rechtsprechung des BVerwG und der bisherigen asylrechtlichen Systematik geändert? Das OVG Berlin-Brandenburg meint ja – 26 Fälle dieses Gerichts liegen dazu beim BVerwG.
Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg verneinte die Frage bislang. Dieser hatte mit drei Urteilen vom 4. Mai 2021 vor dem Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung entschieden, dass diesen sog. "Wehrdienstflüchtlingen" aus Syrien nicht per se die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei (Az. A 4 S 468/21 u.a.). Die bloße Furcht vor dem Einzug durch die syrischen Streitkräfte reiche hierfür nicht aus. Der VGH hatte sich damit offenbar der Rechtsprechung des OVG NRW und von Niedersachsen (OVG Lüneburg, Urt. v. 22.04.2022, Az. 2 LB 147/18) angeschlossen. Die Revision zum BVerwG hatte der VGH jedoch seinerzeit nicht zugelassen.
Anders das BVerwG in den Fällen aus Berlin-Brandenburg: Wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache ließ es die Revision des Beklagten zu. Das Gericht teilte mit, dass der Senat so insgesamt die Gelegenheit zur Klärung verschiedener Fragen hat: Zum einen geht es darum, welche Anforderungen an die vom EuGH formulierte Annahme einer 'starken Vermutung' für eine Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und -grund – sowie deren Widerlegung – zu stellen sind. Außerdem kann der Senat die Frage klären, welche Bedeutung einer solchen "starken Vermutung" im Rahmen der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 VwGO) zukommt.
Relevante Normen sind hier Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG), Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 3 i.V.m. § 3b AsylG) und § 108 Abs. 1 VwGO.
Ende der "Asyllotterie"?
Für den EuGH durften die maßgeblichen Tatsachengrundlagen in gewissem Maße diffus bleiben. Ihm genügte die ausreichende Vermutung, dass die Bestrafung von Militärdienstentziehern (auch) aus politischen Gründen erfolgte, weil sie als vermeintliche politische Gegner des Regimes diszipliniert werden sollen. Diese Vermutung könne nicht zu Lasten des Klägers entkräftet oder widerlegt werden.
"Die Rechtsprechung des EuGH hat die Lage aber nicht befriedet", sagt Prof. Dr. Daniel Thym, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Konstanz. Auch in der Folge der Entscheidung blieb es für die Wehrdienstflüchtlinge bei einer Asyllotterie, weil die Gerichte die Tatsachen weiter unterschiedlich bewerteten, so dass auch die Ergebnisse – Flüchtlingsschutz oder subsidiärer Schutz – weiterhin unterschiedlich blieben", so Thym.
Inzwischen aber sei der Gesetzgeber aktiv geworden: "Der Bundestag hat noch vor Weihnachten das Gesetz zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren verabschiedet", erinnert Thym. Damit könne das BVerwG nun im Wege der Sprungrevision Tatsachenfragen wie in den Fällen der syrischen Wehrdienstflüchtlinge entscheiden. "Damit dürfte der Gesetzgeber insgesamt die Chance auf Stabilität in das deutsche Asylsystem gebracht haben", so der Professor aus Konstanz.
Am Donnerstag wird sich zeigen, ob die Richterinnen und Richter in Deutschland darüber hinaus bei gewissen Unsicherheiten über Verfolgungslagen zu hinreichenden richterlichen Überzeugungen kommen können.
BVerwG zur Lage in Syrien: . In: Legal Tribune Online, 18.01.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50800 (abgerufen am: 08.10.2024 )
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