Wenn die Lieblingsrichter der Deutschen ihre Entscheidungen verkünden, dann ist das mehr als einfach nur Rechtsprechung. Dann hält man mal kurz inne. Dann macht das die Bundesrepublik ein bisschen besser. Vielleicht.
1/6 Viele Geschlechter oder keins
Da leuchtete mal wieder ein Regenbogen über Karlsruhe: Die gesetzlichen Auswahlmöglichkeiten zwischen "weiblich" und "männlich" reichen nicht aus, erklärte der Erste Senat im Oktober (Beschl. v. 10.10.2017, Az. 1 BvR 2019/16). Auch wer weder Mann noch Frau ist, hat einen Anspruch auf einen passenden Geschlechtseintrag im Geburtenregister und muss sich nicht mit dem Hinweis "fehlende Angabe" abfinden.
Schließlich komme der geschlechtlichen Zuordnung im Hinblick auf die individuelle Identität eine "herausragende Bedeutung" zu, erklärte das Gericht. Die aktuelle Regelung verletze das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und verstoße gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 GG.
Nun muss sich der Gesetzgeber mindestens eine dritte positive Geschlechtsbezeichnung überlegen, zum Beispiel "inter/divers" – oder auf den personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrag generell verzichten. Und kann bei der Gelegenheit ja auch schon mal über Unisex-Toiletten nachdenken.
2/6 Bessere Antworten von der Bundesregierung
Zugegeben: Wenn im Bundestag sowieso keiner weiß, wer nun eigentlich Regierung und wer Opposition macht, dann scheinen die komplexen Probleme parlamentarischer Informationsansprüche nicht so richtig spannend. Und die Anfragen der Grünen zu aufsichtsrechtlichen Maßnahmen der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen (BaFin) und zu Vereinbarungen zwischen Bundesregierung und der Deutsche Bahn AG, um die es vor dem BVerfG ging, sind auch schon ein paar Jahre her.
Aber die Entscheidung des Zweiten Senats (Urt. V. 7.11.2017, Az. 2 BvE 2/11) hat es in sich, nicht nur, weil gleich neun Leitsätze oben drüberstehen. Sie eignet sich auch wunderbar, um staatsorganisationsrechtliches Wissen und ganz grundsätzliches Demokratieverständnis abzuprüfen: Wie steht es um die Auskunftspflichten der Regierung gegenüber dem Parlament, wenn es um Unternehmen geht, an denen der Bund beteiligt ist? Und wie sind die Grundrechte Dritter dabei zu berücksichtigen?
Die Verfassungsrichter machten deutlich, dass sie die parlamentarischen Auskunftsrechte ziemlich hoch bewerten. Vertraglich vereinbarte oder einfachgesetzliche Verschwiegenheitsregelungen seien für sich jedenfalls nicht geeignet, das Frage- und Informationsrecht zu beschränken, so der Senat. Bei berechtigten Geheimhaltungsinteressen bestehe schließlich auch die Möglichkeit, die Geheimschutzordnung des Bundestags anzuwenden. Und wenn die Bundesregierung tatsächlich der Ansicht ist, sie könne bestimmte Auskünfte nicht erteilen, so muss sie ihre Weigerung zumindest begründen.
3/6 Zum X-ten Mal: Es ist nicht immer alles gleich Schmähkritik!
"Obergauleiter!" Doch, das kann man schon mal sagen, auch zu einem Bundestagsabgeordneten, eine reine Schmähkritik ist das nicht unbedingt, sondern auch ein bisschen Meinungsfreiheit. Das entschied das BVerfG im Februar (Beschl. v. 08.02.2017, Az. 1 BvR 2973/14). Und setzte damit seine Linie fort, die Meinungsfreiheit zu stärken und an die Annahme einer davon nicht mehr geschützten Schmähung strenge Anforderungen zu stellen.
Man könnte sich allerdings schon fragen, ob die Bezeichnung "Obergauleiter" nicht besser zum Beschwerdeführer selbst gepasst hätte. Der leitete nämlich (im Jahr 2011) eine rechte Demonstration in Köln und sah sich einer Schar Gegendemonstranten gegenüber, darunter der Grünen-Abgeordnete, der die Teilnehmer als "braune Truppe" und "rechtsextreme Idioten" bezeichnete.
"Ich sehe hier einen aufgeregten grünen Bundestagsabgeordneten, der Kommandos gibt", so der Versammlungsleiter daraufhin und verglich diesen mit einem "Obergauleiter der SA-Horden". Und weiter: "Das sind die Kinder von Adolf Hitler. Das ist dieselbe Ideologie, die haben genauso angefangen."
Aber, wie die Verfassungsrichter betonten: Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit "schützt nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen". Man darf also "Obergauleiter!" schimpfen, erst recht, wenn vorher jemand "rechtsextremer Idiot" geschimpft hat. Eine hilfreiche Entscheidung für alle, die sich bei Schimpfworten gerne im rechten Spektrum bedienen.
4/6 Schnelle Hilfe für Hartz-IV-Empfänger
Eine herzerwärmende Entscheidung im Winter: Die Sozialgerichte mögen etwas weniger schematisch vorgehen, wenn es um vorläufige Leistungen für Unterkunft und Heizung geht. Ein Hartz-IV-Empfänger hatte mit seiner Verfassungsbeschwerde Erfolg (Beschl. v. 01.08.2017, Az. 1 BvR 1910/12).
Das Landessozialgericht war nämlich der Auffassung gewesen, solange noch keine Räumungsklage erhoben worden sei, drohe keine Obdachlosigkeit und so seien vorläufige höhere Leistungen für die Kosten von Unterkunft und Heizung auch nicht eilig. Das Jobcenter könne erstmal in Ruhe prüfen, ob der Mann in einer Bedarfsgemeinschaft lebe oder Anspruch auf die (höheren) Leistungen für Alleinstehende habe.
Damit habe das Gericht die Anforderungen an einen effektiven Eilrechtsschutz überspannt, so die Verfassungsrichter. Die Fachgerichte dürfen nicht pauschal auf eine Räumungsklage abstellen, sie müssen anhand der Umstände des Einzelfalls prüfen, ob die Leistungsgewährung nicht doch eilig ist. Man könne nämlich nicht pauschal davon ausgehen, dass sich der Verlust der Wohnung noch verhindern ließe, wenn schon eine Räumungsklage vorliegt.
5/6 Die NPD ist zu unwichtig zum Verbieten
Die am heftigsten umstrittene Entscheidung traf der Zweite Senat gleich zu Anfang des Jahres: Die NPD wird nicht verboten, weil sie ohnehin zu schwach ist, um ihre verfassungsfeindlichen Ziele durchzusetzen (Urt. v. 17. Januar 2017, Az. 2 BvB 1/13)
Erst zweimal hat das BVerfG in der Geschichte der Bundesrepublik ein Parteiverbot ausgesprochen: 1952 wurde die Sozialistische Reichspartei (SRP) verboten, 1956 die Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD).
Nun erklärten die Karlsruher Richter, die NPD vertrete "ein auf die Beseitigung der bestehenden freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtetes politisches Konzept." Sie wolle die bestehende Verfassungsordnung durch einen an der ethnisch definierten "Volksgemeinschaft" ausgerichteten autoritären Nationalstaat ersetzen. Ihr politisches Konzept missachte die Menschenwürde und sei mit dem Demokratieprinzip unvereinbar. Und sie arbeite "auch planvoll und mit hinreichender Intensität" auf diese Ziele hin.
Aber: Es sei derzeit nicht absehbar, dass dieses Handeln zum Erfolg führen könne. Das BVerfG fügte den Voraussetzungen für ein Parteiverbot damit das Kriterium der "Potentialität" hinzu. Das heißt, es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Partei ihre verfassungsfeindlichen Ziele auch erreichen kann.
Die Länder waren damit erneut mit dem Versuch gescheitert, die NPD verbieten zu lassen. Der Bundestag reagierte mit einer Änderung des Grundgesetzes: Parteien, die darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen, sind von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen. Wenn man die NPD nicht verbieten kann, will man sie jedenfalls nicht mehr finanzieren.
6/6 Faire Chancen für alle angehenden Medizinstudenten
Zum Endes des Jahres gab es nochmal gute Nachrichten für alle, die von einem Medizinstudienplatz träumen: Der Numerus Clausus bleibt zwar bestehen, aber Bund und Länder müssen klarere Vorgaben für das Auswahlverfahren machen. Dabei dürfe es nicht allein auf die Abiturnote ankommen, urteilten die Karlsruher Richter (Urt. v. 19. Dezember 2017, Az. 1 BvL 3/14, 1 BvL 4/14).
Sie erklärten, aus der Ausbildungs- und Berufswahlfreiheit (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG) in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) ergebe sich ein Recht auf Teilhabe an den vorhandenen Studienangeboten, die der Staat mit öffentlichen Mitteln geschaffen hat. Und aus dem Gebot der Gleichheitsgerechtigkeit folge, dass sich die Regeln über die Vergabe von Studienplätzen "grundsätzlich am Kriterium der Eignung" orientieren müssen.
Insofern ist es zwar zulässig, die Anzahl der Studienplätze zu begrenzen. Aber die Auswahl und die Verteilung der Bewerber müssen sich nach sachgerechten Kriterien richten und jedem an sich hochschulreifen Bewerber eine Chance geben. Außerdem muss auch die Wahl des Ausbildungsortes möglichst weitgehend berücksichtigt werden. Bis Ende 2019 hat der Gesetzgeber nun Zeit, entsprechende Regelungen zu schaffen.
Annelie Kaufmann, Sollte man kennen: Sechs BVerfG-Entscheidungen, die 2017 Deutschland verändert haben . In: Legal Tribune Online, 29.12.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26221/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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