BVerfG zur Grundrechte-Rechtsprechung des EuGH: "Kooperation sollte mehr sein als informelle Treffen"

Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Weiß

08.05.2013

2/2: "Auch nationale Gerichte müssen Unionsrecht auslegen"

LTO: Åkerberg Fransson enthält also durchaus auch grundsätzliche Aussagen?

Weiß: Ja, dadurch dass der EuGH sagt, Art. 51 der Grundrechtecharta sei so auszulegen, dass die Mitgliedstaaten an die Grundrechte gebunden sind, wenn eine nationale Vorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. Das ist eine recht weite Auslegung unter Rückgriff auf die tradierte Rechtsprechung Luxemburgs, die ja von manchen kritisch beäugt wird. Etwa von Bundesverfassungsrichter Peter Huber aus dem Zweiten Senat, der an der Antiterrordatenentscheidung nicht beteiligt war. Er hält das für eine falsche Richtung, die der EuGH da einschlägt.

LTO: Es geht also um die Auslegung von Art. 51 Abs. 1 der Grundrechtecharta. Dort heißt es, die Charta gilt für die Mitgliedstaaten bei der "Durchführung des Rechts der Europäischen Union". Wie Sie eben bereits gesagt haben, legt der EuGH das in der Sache Åkerberg Fransson so aus, dass die Nationalstaaten an die Charta gebunden sind, wenn eine Vorschrift "in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt". Das BVerfG spricht im Urteil zur Antiterrordatei dagegen davon, Vorschriften müssen "durch Unionsrecht determiniert" sein. Widersprechen sich diese beiden Auslegungen?

Weiß: Ich denke, das BVerfG wollte sich an diesem Punkt nicht im Detail festlegen. Aber es ist durchaus erkennbar sein, dass es diese weite Lesart des EuGH gerne etwas eingeschränkter gesehen hätte.

LTO: Und wer ist nun zuständig für die Auslegung der Charta?

Weiß: Die Auslegung der Charta obliegt vor allem dem EuGH, weil es um die Auslegung und Anwendung des europäischen Rechts geht. Aber das heißt nicht, dass nationale Gerichte sich nicht auch darüber Gedanken machen könnten. Auch nationale Gerichte sind zur Anwendung und damit Auslegung des EU-Rechts verpflichtet. Der EuGH hat nur ein Verwerfungsmonopol und ist – grob formuliert – bei europarechtlichen Zweifelsfragen einzuschalten. Zweifel an seiner Auslegung hatte das BVerfG aber gerade nicht.

LTO: Können Sie sich vorstellen, dass der Zweite Senat – der etwa über die ESM-Klage entscheiden muss – die Sache anders sieht?

Weiß: Ich möchte da nicht spekulieren. Bei so grundsätzlichen Fragen – das wäre ja eine Premiere, wenn ein Senat mal eine Vorlage formuliert – werden die Richter aber sicherlich versuchen, sich im Kollegium insgesamt auf eine einheitliche Sichtweise zu verständigen, um homogen nach außen aufzutreten.

"Vorlage auch im ESM-Verfahren nicht zwingend"

LTO: Was wäre denn tatsächlich mal ein Fall für eine zwingende Vorlage? Das ESM-Verfahren, über das Anfang Juni in der Hauptsache mündlich verhandelt wird?

Weiß: Ja, wenn das BVerfG Zweifel daran hat, ob die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Befugnisse überschritten hat. Das ist eine Frage, die man zum Anlass nehmen könnte und müsste, um vorzulegen. Das BVerfG könnte aber auch wieder um eine Vorlage herumkommen, wenn es der Auffassung ist, dass sich die EZB im Rahmen ihrer Kompetenzen bewegt und es daran keinerlei vernünftige Zweifel erkennt.

LTO: Der irische Supreme Court hatte ja ein bei ihm anhängiges Verfahren vorgelegt, in dem es auch um den ESM ging. Wie unterscheiden sich diese beiden Verfahren voneinander?

Weiß: Bei dem Verfahren Pringle ging es um die Beurteilung einer konkreten primärrechtlichen Norm – dem neuen Artikel 136 Abs. 3 AEUV, der den Mitgliedstaaten die Möglichkeit gibt, einen Stabilitätsmechanismus einzurichten – und die Frage, ob das Unionsrecht dadurch beeinträchtigt wird, dass die Mitgliedstaaten völkerrechtliche Verträge über solche Mechanismen miteinander schließen.

Ein nationales Gericht kann natürlich vorlegen, wenn es eine solche europarechtliche Frage für entscheidungserheblich hält, ein letztinstanzliches Gericht, und damit auch das BVerfG muss das sogar. Letztlich kommt es auf die Frage der Entscheidungserheblichkeit an. Bei der Antiterrordatei war das recht klar nicht der Fall. Bei der Beurteilung der EZB-Kompetenzen ist das anders.

Die nationalen Gerichte können sich allerdings auf die Ausnahme stützen, dass eine Vorlage nicht notwendig ist, wenn keine vernünftigen Zweifel an der gebotenen europarechtlichen Auslegung bestehen. Das kann das BVerfG im ESM-Verfahren dadurch sicherstellen, dass es erkennt, die EZB habe ihre Befugnisse nicht überschritten.

"BVerfG tut sich mit Zurückhaltung keinen Gefallen"

LTO: Würden Sie Karlsruhe denn raten, mal vorzulegen?

Weiß: Eindeutig ja. Koen Lenaerts, der Vize-Präsident des EuGH, hat einmal in einem Interview auf Entscheidendes hingewiesen. Ein vorlegendes Gericht kann nämlich durch seine Argumentation und die Art und Weise wie es die Vorlagefrage kontextualisiert den justiziellen Dialog zwischen den nationalen Verfassungsgerichten und dem EuGH durchaus vorantreiben und in eine bestimmte Richtung lenken. So können nationale Grundrechtskonzepte Luxemburg angeboten werden, die dort dann vielleicht angenommen und auf das Unionsrecht übertragen werden.

Es geht also um einen wirklichen Dialog mit Ergebnissen. Ich bin mir daher recht sicher, dass sich das BVerfG mit seiner bisherigen Zurückhaltung keinen Gefallen tut. Das viel bemühte Kooperationsverhältnis zwischen den Gerichten sollte ja mehr sein als nur informelle Treffen der Richter oder wechselseitige Rücksichtnahmen in isoliert getroffenen Entscheidungen, sondern eine wechselseitige Beteiligung in konkreten Verfahren.

LTO: Sind andere nationale Verfassungsgerichte innerhalb der EU entspannter als das BVerfG, wenn es um Vorlagen an den EuGH geht?

Weiß: Verfassungsgerichte anderer Mitgliedstaaten legen anders als Karlsruhe tatsächlich vor. Ob das jetzt Ausdruck einer größeren Offenheit  für das Europarecht ist, vermag ich aus der Ferne nicht zu beurteilen. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen nationalem Verfassungsgericht und Luxemburg sowie nach Schranken für den Anwendungsvorrang des Unionsrechts stellt sich aber überall in der EU. Das sind keine genuin Karlsruher Themen.

LTO: Vielen Dank für das Gespräch.

Prof. Dr. Wolfgang Weiß ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Europa- und Völkerrecht an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer.

Das Interview führte Claudia Kornmeier.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. Wolfgang Weiß, BVerfG zur Grundrechte-Rechtsprechung des EuGH: "Kooperation sollte mehr sein als informelle Treffen" . In: Legal Tribune Online, 08.05.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8688/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen