Wenn die Große Koalition regiert, haben die übrigen Fraktionen nicht viel zu melden. Die Linke beantragte deshalb, die Oppositionsrechte per Grundgesetzänderung zu stärken. Doch einen Anspruch darauf gibt es nicht, so das BVerfG.
Die Regierungsfraktionen machen die Gesetze und die Opposition funkt dazwischen – so die übliche Aufgabenverteilung im Parlament. Doch seit CDU/CSU und SPD sich Ende 2013 zur Großen Koalition zusammenschlossen, bleibt der Opposition aus Grünen und Linken nur noch wenig Spielraum. Denn gemeinsam kommen sie nur auf rund 20 Prozent der Bundestagssitze. Diverse parlamentarische Handlungsmöglichkeiten setzen jedoch einen Antrag durch mindestens 25 Prozent der Abgeordneten voraus.
Das gilt insbesondere für das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle, mit dem Bundes- oder Landesrecht auf seine Vereinbarkeit mit höherrangigem deutschen Recht überprüft werden kann. Dieselbe Hürde ist auch für die Klagemöglichkeit zum EuGH wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips (Art. 23 Abs. 1a S. 2 GG) vorgesehen, für die Einberufung des Bundestags (Art. 39 Abs. 2 S. 3 GG), die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses (Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG) und das Tätigwerden des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuss (Art. 45a Abs. 2 S. 2 GG).
Weil die Oppositionsarbeit ohne diese Möglichkeiten zu stark eingeschränkt sei, brachte die Bundestagsfraktion der Linken 2014 einen Gesetzentwurf zur Stärkung der Minderheitsrechte ein. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 Grundgesetz (GG), der das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle regelt, sollte danach künftig auch der „Gesamtheit der Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen“ den Zugang zum Verfahren gestatten; ähnliche Änderungen sah der Entwurf für die übrigen Minderheitenrechte vor. Da die Mehrheit aus CDU/CSU und SPD sich gegen den Entwurf stellte, strengte die Linke Ende 2014 ein Organstreitverfahren vor dem BVerfG an, mit dem sie feststellen lassen wollte, dass der Bundestag die Rechte des Bundestages verletzt habe, indem er die beantragten Verfassungsänderungen unterließ.
Das GG kennt die "Fraktion" kaum, die "Opposition" gar nicht
Das sahen die Karlsruher Richter am Dienstag indes anders (Urt. v. 03.05.2016, Az. 2 BvE 4/14). Die Begründung des Gerichts überzeugt argumentativ. Sie nennt im wesentlichen zwei Gründe, die gegen den Antrag der Linksfraktion sprechen:
Erstens kenne das Grundgesetz den Begriff der Opposition gar nicht, selbst den der Fraktion verwendet es lediglich im bisher praktisch bedeutungslos gebliebenen Art. 53a, in dem es um die Bildung eines "Gemeinsamer Ausschuß" genannten Notparlaments für den Verteidigungsfall geht. Aus dem Grundgesetz eine Pflicht abzuleiten, die Oppositionsfraktionen mit eigenen Rechten auszustatten, liegt daher in der Tat nicht nahe.
Stattdessen weist die Verfassung punktuell einer qualifizierten Minderheit der Abgeordneten bestimmte Rechte zu, ohne darauf Wert zu legen, ob diese Abgeordneten in einem Oppositionsverhältnis zur Regierung stehen oder nicht. Dieses Vorgehen produziert eindeutige Ergebnisse, die nicht von dem jeweiligen politischen Verhältnis der Abgeordneten zur Regierung abhängen. Kein unbedeutender Vorzug, denn es kann praktisch schwierig sein, festzustellen, wo die Grenze zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen verläuft, etwa im Fall der parlamentarischen Duldung einer Minderheitsregierung.
Abgeordnetenrechte nicht von politischer Haltung abhängig
Verfassungsrechtlich noch stärker ist das zweite Argument, das Karlsruhe ins Feld führt. Spezifische Rechte für Abgeordnete zu schaffen, die eine bestimmte politische Haltung haben – nämlich die Regierung abzulehnen -, stelle einen Verstoß gegen die Gleichheit der Abgeordneten dar, denn „regierungstreue“ Abgeordnete sind vom Genuss dieser Rechte definitionsgemäß ausgeschlossen. Zwischen den Abgeordneten darf jedoch nur aus verfassungsrechtlich zwingenden Gründen differenziert werden, nicht aber wegen ihrer politischen Haltung zur Bundesregierung.
Hinter diesen Argumenten des Gerichts steht die Konzeption, die das Grundgesetz vom Bundestag entwickelt. Das Parlament basiert danach auf dem freien und gleichen Mandat aller Parlamentsmitglieder. Parlamentarische Kompetenzen weist die Verfassung daher verschiedenen Mehrheiten und ausnahmsweise auch qualifizierten Minderheiten zu, die aber immer nach ihrer Zahl und nicht nach politischen Kriterien bestimmt sind. Deswegen ist die Verfassung auch zurückhaltend damit, politisch definierten Untergliederungen des Bundestages, also den Fraktionen oder parlamentarischen Gruppen, eigene Rechte einzuräumen. Fraktions- oder Gruppenrechte sind vielmehr Sache der Geschäftsordnung des Bundestages (GOBT), mit deren Hilfe das Parlament seine Arbeit organisiert.
Viele Minderheitenrechte schon heute in der GOBT geregelt
In deren § 126a finden sich viele der von der Linken geforderten Rechte so oder ähnlich bereits heute, was dem Antrag auch einen Großteil seiner praktischen / politischen Relevanz nimmt. Rechtlich ist diese Regelungsform zwar schwach, denn die Mehrheit des Bundestages kann jederzeit eine Änderung der Geschäftsordnung beschließen. Politisch wäre eine Änderung, die offenkundig dem Zweck dient, der ohnehin schwachen Opposition bestimmte Rechte vorzuenthalten, aber kaum zu vermitteln und ist daher unwahrscheinlich.
Zudem haben die im Antrag der Linksfraktion genannten Minderheitenrechte – mit der wesentlichen Ausnahme des Rechts, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen – in der parlamentarischen Praxis bislang keine große Rolle gespielt. Dies gilt gerade auch für das Recht, ein Verfahren der abstrakten Normenkontrolle anzustoßen, von dem die Opposition in der Vergangenheit kaum Gebrauch gemacht hat. So betrachtet spricht also nahezu alles gegen den Antrag der Linken, der denn auch wenig überraschenderweise abgelehnt wurde.
Das Verfahren wird dennoch nicht folgenlos bleiben. Das BVerfG hat seine bisherige Rechtsprechung zu Kontrollrechten der parlamentarischen Minderheit auf den Punkt gebracht und spricht nun von einem „allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz effektiver Opposition“ (Rn. 85). Das Gericht meint damit, dass Kontrollrechte der parlamentarischen Minderheit gegenüber der Regierung so auszulegen sind, dass sie effektiv zur Geltung kommen. Der neue Begriff wird bleiben und in Zukunft die Diskussion prägen, etwa dann, wenn es um das Verfahren in Untersuchungsausschüssen geht oder um die Pflichten der Regierung, auf parlamentarische Anfragen zu antworten.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner ist Habilitand am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Sebastian Roßner, BVerfG zu Rechten parlamentarischer Minderheiten: . In: Legal Tribune Online, 03.05.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19289 (abgerufen am: 07.11.2024 )
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